Peter Kiesgen, Dr. iur. Jan Grawe
Rz. 300
Anwesenheitsprämien stellen einen Anreiz zu gesundheitsbewusstem und -förderndem Verhalten dar und sollen leichtfertige Krankmeldungen unterbinden bzw. einen Anreiz erzeugen, die Zahl der berechtigten oder unberechtigten Fehltage im Bezugszeitraum möglichst gering zu halten. Sie sind Sondervergütungen (vgl. Rdn 302, 304 f.), die nicht die vertraglich vereinbarte Arbeitsleistung honorieren sollen, also kein laufendes Arbeitsentgelt darstellen. Sie werden als weitergehende zusätzliche Leistung vereinbart, ausgelobt oder schlicht gewährt, um Mehrbelastungen am Arbeitsplatz zu vermeiden, die sonst durch Vertretungsbedarf für abwesende Mitarbeiter entstehen.
Rz. 301
Sozialpolitisch sind Anwesenheitsprämien umstritten, weil die Prämien unabhängig davon gekürzt werden, ob die betreffenden Fehlzeiten verschuldet oder unverschuldet eintraten. Im Zentrum der Rechtsprechung stand daher lange die Frage, ob und inwieweit Prämienkürzungen mit der Lohn- bzw. Entgeltfortzahlungspflicht im Krankheitsfall vereinbar sind. Der Gesetzgeber schloss sich aber letztlich dieser sozialpolitischen Kritik nicht an, sondern gestattet, wie § 4a EFZG zeigt, in bestimmten Grenzen die Kürzung aller Arten von Sondervergütungen auch in Krankheitsfällen.
Rz. 302
Der Begriff der "Sondervergütung" ist gesetzlich nicht definiert. Der Wortlaut des § 4a EFZG stellt aber klar, dass kürzungsrelevante Sondervergütungen nur vorliegen, wenn sie zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt geleistet werden. Als kürzbare Sondervergütungen in diesem Sinne kommen grundsätzlich alle Leistungen in Betracht, die neben dem laufenden Arbeitsentgelt erbracht werden, also sowohl freiwillige Leistungen des Arbeitgebers, als auch solche, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Hierzu können z.B. Gratifikationen zählen sowie Kostenerstattungen, Wege- und Fahrtgelder, Lohnzuschläge und nicht zuletzt natürlich auch unmittelbare Anwesenheitsprämien.
Rz. 303
Eine Anwesenheitsprämie kann in den Grenzen der Transparenz- und Inhaltskontrolle (§§ 305c Abs. 1, 307 BGB) als freiwillige Leistung gezahlt werden, auf die auch bei wiederholter Auszahlung kein Rechtsanspruch entsteht. Vor dem Hintergrund der engen Grenzen, in denen das BAG Freiwilligkeitsvorbehalte mittlerweile nur noch zulässt, empfiehlt es sich, bei jeder tatsächlichen Gewährung der Anwesenheitsprämie den Freiwilligkeitsvorbehalt zu wiederholen.
Rz. 304
Ob eine Anwesenheitsprämie als Sondervergütung zu bewerten ist, hängt nicht von ihrer Bezeichnung, sondern von der zugrundeliegenden Leistungsbestimmung ab. Es kommt also auf den mit der Prämienzusage verfolgten Zweck an, unabhängig davon, ob dieser vertraglich vereinbart ist oder – bei freiwilligen Leistungen – einseitig vom Arbeitgeber bestimmt wurde. Der Zweck der Prämienzahlung ist im Zweifel durch Auslegung der zugrundeliegenden Willenserklärungen zu ermitteln. Der Zweck kann außer in individualvertraglicher Weise auch durch kollektivrechtliche Maßnahmen bestimmt werden, z.B. auf Basis eines Tarifvertrages, einer Gesamtzusage, einer freiwilligen Betriebsvereinbarung oder aufgrund betrieblicher Übung. Die Kürzung einer Anwesenheitsprämie ist stets nur zulässig, wenn die Prämienregelung ein solches Kürzungsrecht ausdrücklich eröffnet. Eine gesetzliche Regelung, aus der sich ein solches Kürzungsrecht ergibt, existiert nicht.
Rz. 305
Ob eine Anwesenheitsprämie als zusätzliche und damit kürzbare Sondervergütung i.S.v. § 4a EFZG oder als laufendes – unkürzbares – Arbeitsentgelt anzusehen ist, kann sich auch aus den Umständen ihrer Gewährung (z.B. im Gehaltstakt oder als Einmalzahlung) und aus ihrer systematischen Stellung im Arbeitsvertrag (z.B. im Zusammenhang mit der Gehaltsregelung oder davon unabhängig an anderer Stelle) ergeben.