Peter Kiesgen, Dr. iur. Jan Grawe
Rz. 1634
Das Arbeitnehmerschutzrecht kennt zahlreiche Bestimmungen, die das Entstehen von Rechten von einer Wartezeit abhängig machen, mithin von einem Mindestzeitraum, den ein Arbeitnehmer innerhalb des Arbeitsverhältnisses zurückgelegt haben muss. Das prominenteste Beispiel einer Wartezeit findet sich im Kündigungsschutzgesetz. Gem. § 1 Abs. 1 KSchG beträgt die Wartezeit bis zur Entstehung des allgemeinen Kündigungsschutzes sechs Monate, beginnend mit dem vereinbarten Beginn des Arbeitsverhältnisses, und endend mit Ablauf von sechs Monaten, auch wenn der letzte Tag auf einen Sonn- oder Feiertag fällt. Erst wenn das Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers in demselben Betrieb oder Unternehmen ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden hat, bedarf die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber der sozialen Rechtfertigung i.S.v. § 1 Abs. 2 KSchG. Ungeklärt ist, ob die Wartezeit als Probezeit i.S.v. Art. 8 der Richtlinie (EU) 2019/1152 anzusehen ist; dann wäre die starre Sechs-Monats-Grenze für befristete Arbeitsverhältnisse mit einer Dauer von nicht mehr als zwölf Monaten unangemessen lang und § 1 Abs. 1 KSchG insoweit unionsrechtswidrig.
aa) Erfüllung der Wartezeit
Rz. 1635
Auf die Wartezeit werden nur Zeiten angerechnet, die im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses zurückgelegt werden, wobei nicht erforderlich ist, dass das Arbeitsverhältnis durchgehend deutschem Recht unterfallen ist. Zeiten, in denen der Arbeitnehmer außerhalb eines Arbeitsverhältnisses als Organvertreter, als freier Mitarbeiter, als Praktikant, als Leiharbeitnehmer oder im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungs- oder Eingliederungsmaßnahme (sog. Ein-Euro-Job) für den Arbeitgeber tätig geworden ist, werden daher nicht berücksichtigt. Zeiten einer vorangegangenen Berufsausbildung werden jedoch über den Gesetzeswortlaut hinaus auf die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG angerechnet, da die Berufsausbildung wegen § 10 Abs. 2 BBiG jedenfalls in diesem Zusammenhang einem Arbeitsverhältnis gleichzustellen ist.
Rz. 1636
Voraussetzung der Wartezeiterfüllung ist weiterhin ein ununterbrochenes Arbeitsverhältnis. Tatsächliche Unterbrechungen wie Krankheit, Urlaub oder Streik sind dabei allerdings nicht von Bedeutung; auch wenn der Arbeitgeber faktisch keine Möglichkeit zur Erprobung des Arbeitnehmers hatte, führt dies nicht zu einer Verlängerung der gesetzlichen Wartezeit. Entscheidend ist allein der rechtliche Bestand des Arbeitsverhältnisses, der auch in Fällen der Rechtsnachfolge etwa durch Betriebsübergang oder Verschmelzung erhalten bleibt. Wird das Arbeitsverhältnis rechtlich beendet, beginnt der Lauf der Wartezeit mit einer späteren Wiedereinstellung von neuem.
Rz. 1637
Eine Zusammenrechnung mehrerer Beschäftigungszeiten bei rechtlicher Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses kommt im Rahmen des § 1 KSchG nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht, wenn das neue Arbeitsverhältnis unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls in einem engen sachlichen Zusammenhang mit dem früheren Arbeitsverhältnis steht. Dabei kommt es insbesondere auf Anlass und Dauer der Unterbrechung und auf die Art der Weiterbeschäftigung an. Schließt sich das zweite Arbeitsverhältnis ohne zeitliche Unterbrechung an, liegt ein sachlicher Zusammenhang grds. vor; je länger jedoch die zeitliche Unterbrechung gedauert hat, desto gewichtiger müssen die für einen sachlichen Zusammenhang sprechenden Umstände sein. I.d.R. werden auch bei Vorliegen besonderer Umstände allenfalls kurzfristige Unterbrechungen von einigen Tagen bis zu wenigen Wochen für die Anrechnung einer früheren Beschäftigungszeit als unschädlich angesehen, wenn etwa im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang eine (rechtlich wirksame) ...