Peter Kiesgen, Dr. iur. Jan Grawe
Rz. 428
Das Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) regelt unter anderem die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall. Die gesetzliche Entgeltfortzahlung bei Krankheit knüpft daran an, dass der Arbeitnehmer "durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert wird, ohne dass ihn ein Verschulden trifft"; in diesem Fall hat der Arbeitnehmer einen Anspruch gegen den Arbeitgeber auf Entgeltfortzahlung bis zur Dauer von sechs Wochen.
aa) Krankheit und Arbeitsunfähigkeit
Rz. 429
Das EFZG knüpft Rechtsfolgen an die "Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit". Krankheit und Arbeitsunfähigkeit kennzeichnen zwei nicht deckungsgleiche Sachverhalte. Krankheit ist jeder "regelwidrige Körper- oder Geisteszustand". Das Erfordernis einer Heilbehandlung ist nicht (mehr) maßgebend. Nicht jede Krankheit führt zur Arbeitsunfähigkeit. Eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit ist erst gegeben, wenn der Arbeitnehmer infolge der Krankheit seine vertraglich geschuldete Tätigkeit nicht mehr ausüben kann, oder bis auf Weiteres nicht ausüben soll, weil ansonsten die Heilung nach ärztlicher Prognose verhindert oder verzögert würde (Verschlimmerungsgefahr). Im Übrigen muss sich ein arbeitsunfähig erkrankter Arbeitnehmer stets auch außerdienstlich so verhalten, dass er bald wieder gesund wird und an seinen Arbeitsplatz zurückkehren kann, und hat alles zu unterlassen, was seine Genesung verzögern könnte. Eine schwerwiegende Verletzung dieser Rücksichtnahmepflicht kann eine fristlose Kündigung rechtfertigen. Maßgebend für die Arbeitsunfähigkeit ist nicht erst der gesundheitliche Zusammenbruch, sondern eine vom Arzt nach objektiven Maßstäben vorzunehmende Bewertung. Die subjektive Wertung des betroffenen Arbeitnehmers ist nicht ausschlaggebend.
Rz. 430
Im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung sind die vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen verabschiedeten Arbeitsunfähigkeit-Richtlinien ("AU-RL") maßgeblich.
Rz. 431
Keine Arbeitsunfähigkeit liegt vor, wenn der Arbeitnehmer zwar erkrankt ist, die Erkrankung ihn aber nicht daran hindert, im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses eine konkrete andere Arbeitsaufgabe voll zu erfüllen bzw. er an einem anderen Arbeitsplatz voll eingesetzt werden kann. Voraussetzung ist, dass der Arbeitgeber nach den arbeitsvertraglichen Regelungen berechtigt ist, vorübergehend die andere Tätigkeit zuzuweisen, oder der Arbeitnehmer der Zuweisung der anderen Tätigkeit zustimmt. Handelt es sich bei der Zuweisung des anderen Arbeitsbereichs um eine Versetzung i.S.d. § 99 BetrVG, ist außerdem die Zustimmung des Betriebsrats erforderlich. Die Möglichkeit alternativer Einsatzmöglichkeiten hat auch der anordnende Arzt zu bedenken und ggf. zu erfragen, bevor er dem erkrankten Arbeitnehmer eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellt. In der Praxis findet diese Ermittlung kaum statt, zumal der Arbeitnehmer selbst oft gar nicht wissen wird, welche anderweitigen Beschäftigungen zugewiesen werden könnten, und umgekehrt der Arbeitgeber keine Kenntnis vom Gesundheitszustand oder Grund der Krankheit hat. Diesen Missstand könnte man nur beseitigen, wenn es zu einem Informationsaustausch zwischen Arzt und Arbeitgeber käme.