Peter Kiesgen, Dr. iur. Jan Grawe
Rz. 335
Auch die eindeutige Bestimmung der anzuwendenden sozialversicherungsrechtlichen Regelungen bei einem vom Arbeitnehmer gewünschten Tätigkeitsort im Ausland ist sorgfältig zu prüfen. Die nicht korrekte Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen kann für den Arbeitgeber immense Nachzahlungen einschließlich Säumniszuschlägen auslösen und hat jedenfalls im deutschen Recht unter Umständen auch eine strafrechtliche Relevanz, s. § 266a StGB. Ausgangslage für die Ermittlung der Sozialversicherungspflicht sind die Bestimmungen der VO (EG) 883/2004 und VO (EG) 987/2009. Die Frage, welches Sozialversicherungsrecht Anwendung findet, ist einer Rechtswahl nicht zugänglich, sondern kann allenfalls durch vertragliche Gestaltung der Arbeitsumstände und Arbeitsvertragsinhalte beeinflusst werden. Soll für den Arbeitnehmer ein bestimmtes Sozialversicherungsrecht gelten, kann dies z.B. durch die Formulierung eines festzulegenden Arbeitszeitanteils, den der Arbeitnehmer maximal an einem bestimmten Ort im Ausland leisten darf, erreicht werden. Grundsätzlich gilt, dass eine Sozialversicherungspflicht nur in einem der Mitgliedstaaten bestehen kann. Nach Art. 11 Abs. 3 lit. a VO (EG) 883/2004 richtet sich die Sozialversicherungspflicht grundsätzlich nach dem Recht des Beschäftigungsorts (sog Beschäftigungsstaat). Das wiederum ist der Ort, in dem die Beschäftigung tatsächlich verrichtet wird. Der Wohnsitz des Beschäftigten oder der Betriebssitz des Arbeitgebers sind demgegenüber irrelevant. Was unter dem Begriff der sozialversicherungsrechtlich relevanten Beschäftigung zu verstehen ist, wird unionsweit nicht einheitlich definiert. Hier sind die nationalen Sichtweisen der Gerichte des Landes, in dem die mobile Arbeit verrichtet werden soll, zu ermitteln.
Rz. 336
Schwierigkeiten bereitet die Bestimmung des Beschäftigungsorts bei der alternierenden Telearbeit in verschiedenen Ländern, bei der die Arbeitsleistung abwechselnd vom Telearbeitsplatz im Land A oder B oder im Büro am Betriebssitz des Arbeitgebers im Land C ausgeführt wird, abwechselnd also in unterschiedlichen Mitgliedstaaten der Union. In diesen Fällen ist die Frage, welches Sozialversicherungsrecht gilt, anhand der Regelungen des Art. 13 Abs. 1 VO (EG) 883/2004, Art. 14 VO (EG) 987/2009 nach einer zweistufigen Prüfung zu bestimmen:
Auf erster Stufe ist zu prüfen, ob der Arbeitnehmer gewöhnlich in mehreren Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt. Dies ist der Fall, wenn in keinem Mitgliedstaat eine unbedeutende Tätigkeit vorliegt. Von einer unbedeutenden Tätigkeit ist auszugehen, wenn ein Teil der Tätigkeit in einem Mitgliedstaat unter 5 % der regulären Arbeitszeit liegt und/oder der Wert der dort verdienten Vergütung weniger als 5 % der Gesamtvergütung ausmacht. Auch die Eigenart der Arbeitsleistung kann in die Gesamtbetrachtung miteinbezogen werden. Ist die Tätigkeit in einem der Mitgliedstaaten als unbedeutend einzuordnen, ist diese unbedeutende Tätigkeit für die Bestimmung des Beschäftigungsorts relevant. Ist der Anwendungsbereich des Art. 13 VO (EG) 883/2004 aufgrund einer gewöhnlichen Tätigkeit in mehreren Mitgliedstaaten eröffnet, muss auf zweiter Stufe geprüft werden, ob ein wesentlicher Teil der Tätigkeit im Wohnmitgliedstaat des Arbeitnehmers ausgeübt wird. Dies ist gemäß Art. 14 VO (EG) 987/2009 regelmäßig der Fall, wenn in einer Gesamtbewertung anhand von Arbeitszeit und Arbeitsentgelt ein Anteil von 25 % erreicht wird. Ist dies der Fall, so gilt das Sozialversicherungsrecht des Wohnmitgliedstaats. Ansonsten ist das anwendbare Recht anhand von Art. 13 Abs. 1 lit. b) VO (EG) 883/2004 zu bestimmen. Nach Art. 13 Abs. 1 lit. b) i) VO (EG) 883/2004 bestimmt sich das geltende Recht nach dem Sitz des Arbeitgebers, dies soll gemäß Art. 14 Abs. 5a VO(EG) 987/2009 der satzungsgemäße Sitz oder die Niederlassung sein, an der die wesentlichen Entscheidungen getroffen und die zentralen Verwaltungshandlungen vorgenommen werden.
Rz. 337
Für den Bereich der mobilen Arbeit und Telearbeit ("Telework") haben diverse europäische Staaten, auch Deutschland, zum 1.7.2023 ein multilaterales "Framework Agreement on the application of Article 16 (1) of Regulation (EC) No. 883/2004" (Multilaterales Rahmenübereinkommen über die Anwendung von Artikel 16 Absatz 1 VO (EG) 883/04) geschlossen, das eine Ausnahme i.S.v. Art. 16 VO (EG) 883/2004 von der Regelung des Art. 13 VO (EG) 883/2004 vorsieht. Danach kann auf Antrag einer der Arbeitsvertragsparteien die Geltung des Sozialversicherungsrechts des Staats der Niederlassung des Arbeitgebers für anwendbar erklärt werden, wenn der Arbeitnehmer weniger als 50 % seiner Arbeitszeit in einem –anderen – Staat, in dem er seinen Wohnsitz hat, verbringt. Voraussetzung für die Anwendung ist, dass die Mitgliedstaaten, zwischen denen der Arbeitnehmer pendelt, das Abkommen unterzeichnet haben und dass es sich um Telearbeit im Sinne der Richtlinie handelt. Die Kommission hat Leitlinien auch für den Bereich "Workation" e...