Peter Kiesgen, Dr. iur. Jan Grawe
Rz. 91
Gesundheitszustand und Krankheiten betreffen die Intimsphäre eines Bewerbers und sind damit dem Fragerecht des Arbeitgebers weitgehend entzogen, es sei denn, die nachgefragte Tatsache wäre für den Betrieb des Arbeitgebers oder die künftigen Arbeitskollegen von besonderem Interesse. Daher setzt das Fragerecht stets einen besonderen Sachzusammenhang mit der zu besetzenden Stelle voraus. Das ist z.B. im Falle epileptischer Krankheiten bei sicherheitsrelevanten Tätigkeiten der Fall, wenn ein möglicher krankheitsbedingter Ausfall Gefährdungen für den Betrieb, dessen Mitarbeiter oder Dritte mit sich bringt. Nach solchen konkret relevanten Krankheiten darf der Arbeitgeber fragen. Darüber hinaus bestehen Offenbarungspflichten bei Alkohol-/Drogenabhängigkeit im Falle der Bewerbung auf eine sicherheitsrelevante Position, z.B. Kraftfahrer, Pilot, Gerüstbauer etc.
Fragen nach ansteckenden Krankheiten, vor denen Belegschaft und Kundenkreis bewahrt werden muss, sind wahrheitsgemäß zu beantworten; schwere Erkrankungen, die die Arbeitsleistung wegen der Ansteckungsgefahr oder der drohenden Ausfallerscheinungen dauerhaft oder regelmäßig behindern, sind auch ungefragt vom Bewerber zu offenbaren.
Im Zuge der COVID-19-Pandemie waren Beschäftigte in medizinischen Einrichtungen zeitweise zur Offenbarung ihres Impfstatus gegenüber ihren Arbeitgebern verpflichtet (§ 20a IfSG a.F.).
Die Verweigerung der Offenbarung oder ein unzureichender Immunitätsnachweis hatten ein gesetzlich verordnetes Beschäftigungsverbot zur Folge.
Nach der Aufhebung des § 20a IfSG a.F. zum 1.1.2023 kann eine eingehendere Betrachtung zu Umfang und Geltungsbereich der Offenbarungspflicht hier dahinstehen.
Rz. 92
In einigen Fällen ist der Arbeitgeber verpflichtet, z.B. nach § 43 IfSG, dafür Sorge zu tragen, dass sich seine Arbeitnehmer einer ärztlichen Einstellungsuntersuchung unterziehen. Das gilt bei ausdrücklicher Zustimmung des Bewerbers auch für psychologische Tests, um Zweifel an der Eignung auszuschließen.
Rz. 93
Allerdings verbleibt bis zur Klärung durch die Rechtsprechung ein Wertungswiderspruch zum AGG im Falle von Krankheiten, die gleichzeitig eine Behinderung darstellen. Der EuGH entwickelte zwar eine abgrenzende Definition, sieht aber dennoch in der Entscheidung vom 11.7.2006 Überschneidungsbereiche, in denen eine Erkrankung, besonders bei langer Dauer, gleichzeitig eine Behinderung darstellen kann.
Rz. 94
Im Falle von HIV ist zwischen Aidserkrankung und bloßer HIV-Infektion zu differenzieren. Wegen der erheblichen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit ist die Frage nach einer bestehenden Aidserkrankung nach überwiegender Meinung zulässig, während die HIV-Infektion nur dann wahrheitsgemäß anzugeben sein soll, wenn die persönliche Eignung des Bewerbers – z.B. im Krankenhaus- und Gesundheitswesen wegen der dort erhöhten Ansteckungsgefahr – betroffen ist.
Rz. 95
Sind Kur- oder Rehabilitationsmaßnahmen für die Zeit nach Arbeitsantritt beantragt, so wird durch deren Antritt die Verfügbarkeit des Arbeitnehmers eingeschränkt. Trotzdem wurde ein Fragerecht im Falle einer beantragten Reha-Maßnahme bei einem befristeten Arbeitsverhältnis von einem Jahr verneint. Denn die Gewährung der Maßnahme und ihr Zeitpunkt stünden im Ermessen des Leistungsträgers, weshalb der Bewerber im Einstellungszeitpunkt nicht mit einer Arbeitsverhinderung habe rechnen müssen. Im Umkehrschluss besteht folglich bei bereits bewilligten Maßnahmen eine Offenbarungspflicht des Bewerbers.
Rz. 96
Seit dem 24.4.2009 ist das Gendiagnostikgesetz in Kraft. Es verbietet in § 19 genetische Untersuchungen und Analysen (§ 3 Nr. 1, 2 GenDG) vor und nach der Begründung eines Arbeitsverhältnisses. Die Regelung ist nicht dispositiv, so dass eine Einwilligung des Bewerbers bedeutungslos ist. Die herkömmlichen Untersuchungsmethoden berührt das GenDG dagegen nicht, und zwar auch dann nicht, wenn eine berufsrelevante Erkrankung auf einer genetischen Ursache beruht (z.B. Farbblindheit), solange keine genetische Untersuchung i.S.v. § 3 Nr. 1 bzw. 2 GenDG durchgeführt wird.
§ 21 GenDG enthält ein dem AGG vergleichbares Benachteiligungsverbot dergestalt, dass eine Diskriminierung wegen einer für den Bewerber wegen seiner für ihn unabänderlichen genetischen Eigenschaften (oder die eines genetisch Verwandten) unzulässig ist. Die §§ 15 und 22 des AGG werden ausdrücklich für entsprechend anwendbar erklärt. Bei einem Verstoß ergeben sich daher dieselben Rechtsfolgen, die bereits oben zu § 15 AGG beschrieben sind, nämlich ein Schadensersatzanspruch für materielle Schäden und ein Entschädigungsanspruch für immaterielle Schäden. Ein Einstellungsanspruch besteht dagegen nicht (§ 15 Abs. 6 AGG).