Martin Brock, Dr. Katja Francke
Rz. 422
Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle setzt weiter voraus, dass die Arbeitsunfähigkeit ohne Verschulden des Arbeitnehmers eingetreten ist, § 3 Abs. 1 EFZG. Ein Verschulden schließt die Entgeltfortzahlung aus. Verschulden meint ein Verhalten, bei dem es sich um einen groben Verstoß gegen das eigene Interesse eines verständigen Menschen handelt. Plakativ wird auch von einem Verschulden gegen sich selbst gesprochen. Bloß leichtsinniges Verhalten erfüllt den Tatbestand noch nicht, sondern nur ein besonders leichtfertiges oder vorsätzliches Verhalten.
Rz. 423
Unfälle sind verschuldet, wenn sie durch einen gröblichen Verstoß gegen das von einem verständigen Menschen zu erwartende Verhalten herbeigeführt sind. Für das Verschulden ist unerheblich, ob der Unfall sich in der Freizeit, bei Nachbarschaftshilfe oder einer Nebentätigkeit ereignet hat. Unfälle, die auf Alkoholmissbrauch zurückzuführen sind, sind regelmäßig verschuldet.
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Bei Arbeitsunfällen (vgl. §§ 7–9 SGB VII) ist ein Verschulden dann anzunehmen, wenn der Arbeitnehmer die Vorgaben der Unfallverhütungsvorschriften oder die seiner Sicherheit dienenden Anordnungen des Arbeitgebers in grober Weise missachtet und es deshalb zu einem Unfall mit anschließender Arbeitsunfähigkeit kommt. |
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Bei Sportunfällen soll es nicht darauf ankommen, ob die Sportart für sich gesehen gefährlich oder ungefährlich ist, sondern ausschließlich darauf, ob der verletzte Arbeitnehmer besonders leichtfertig gegen die anerkannten Regeln des Sports verstoßen hat oder ob er sich an dem Sport überhaupt oder in einer Weise beteiligt hat, die seinen bisherigen Ausbildungsstand und/oder seine Kräfte übersteigt. Verschuldet sind Sportunfälle, wenn die eigene Leistungsfähigkeit erkennbar überschritten wird oder wenn gegen die anerkannten Regeln des Sports verstoßen wird. |
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Bei Verkehrsunfällen liegt ein den Entgeltfortzahlungsanspruch ausschließendes Verschulden vor, wenn der Arbeitnehmer die Verkehrsregeln vorsätzlich oder in besonders grober Weise fahrlässig missachtet, etwa: Telefonieren während der Fahrt ohne Freisprecheinrichtung oder Trunkenheit am Steuer, wenn der Unfall aufgrund der Alkoholisierung verursacht wird. |
Rz. 424
Die Abhängigkeit von Alkohol, Nikotin, Drogen oder Tabletten ist eine Krankheit. Die darauf beruhende Arbeitsunfähigkeit ist nicht unbedingt selbstverschuldet. Maßgeblich ist, welche Ursachen zur Abhängigkeit geführt haben und inwieweit sie dem Arbeitnehmer als Verschulden im Sinne des EFZG angelastet werden können. Der Arbeitnehmer ist zur Mitwirkung verpflichtet. Er hat die zur Erkrankung führenden Umstände, die ein Verschulden ausschließen können, zu offenbaren. Das Risiko der Unaufklärbarkeit geht zu Lasten des Arbeitgebers, da er die Beweislast trägt. Der Rückfall nach einer stationären Behandlung und umfangreicher Aufklärung kann nach teilweise vertretener Auffassung zwar ein wichtiges Indiz für ein Verschulden des Arbeitnehmers im Sinne des EFZG sein. Das BAG geht neuerdings jedoch davon aus, dass bei einem Rückfall nach einer erfolgreich durchgeführten Therapie sich die Multikausalität der Alkoholabhängigkeit häufig in den Ursachen eines Rückfalls widerspiegeln und deshalb ein schuldhaftes Verhalten im entgeltfortzahlungsrechtlichen Sinn nicht festzustellen sein wird. Da es jedoch keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse gebe, die in diesem Fall ein Verschulden im Sinne des § 3 EFZG generell ausschließen würden, könne nur ein fachmedizinisches Gutachten genauen Aufschluss über die willentliche Herbeiführung des Rückfalls geben.
Rz. 425
Die Auseinandersetzung darüber, ob ein Arbeitnehmer, der als Organspender als unvermeidliche Begleiterscheinung (auch bei einem komplikationslosen Eingriff) Krankheit und Arbeitsunfähigkeit in Kauf nimmt, einen Entgeltfortzahlungsanspruch hat, ist durch die Neuregelung des § 3a EFZG überholt (siehe Rdn 431 ff.).
Rz. 426
Medizinische Eingriffe, die eine bestehende Unfruchtbarkeit beseitigen sollen bzw. eine künstliche Befruchtung, die zur Arbeitsunfähigkeit führen, lösen einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung aus. Ein Verschulden wird verneint, da derartige Eingriffe keinen Verstoß gegen die eigenen Interessen eines verständigen Menschen darstellen.
Rz. 427
Eine Arbeitsunfähigkeit, die infolge eines medizinisch nicht indizierten Eingriffs wie einer Schönheitsoperation, eines Piercings oder Tätowierung auftritt, schließt die Entgeltfortzahlung aus. Der Arbeitnehmer nimmt bei derartigen Eingriffen Komplikationen bewusst in Kauf, und handelt wider seine eigenen Interessen und damit schuldhaft im Sinne des EFZG.
Rz. 428
Hat der Arbeitnehmer die Arbeitsverhinderung infolge Krankheit in diesem Sinne verschuldet, entfällt der Entgeltfortzahlungsanspruch gegen den Arbeitgeber. Bereits erbrachte Entgeltfortzahlung ist nach den Regeln der ungerechtfertigten Bereicherung zurückzugewähren (§ 812 BGB: "ohne Rechtsgrund"). Der Einwand der...