Rz. 128
Bezugsobjekt des § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB ist die jeweilige gesetzliche Regelung, von der eine Vertragsbestimmung in AGB abweicht. Hinter der Vorschrift steht die Idee des Gesetzgebers, dass das dispositive Recht Leitbildfunktion hat. Der in § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB verwendete Begriff der "gesetzlichen Regelung" überschneidet sich mit dem Begriff der "Rechtsvorschrift" in § 307 Abs. 3 BGB, ist jedoch nicht deckungsgleich mit diesem. Unter den Begriff der "gesetzlichen" Regelung fallen hier zunächst alle Gesetze im materiellen Sinn, also auch das Gewohnheitsrecht sowie Verordnungen. Erfasst werden nach überwiegender Auffassung ferner auch durch Analogien und Rechtsfortbildung entwickelte allgemeine Rechtsgrundsätze sowie das sog. Richterrecht und auch das europäische Recht. Dies gilt jedenfalls insoweit, als diese Quellen dispositives Recht enthalten. Bei Verstößen einer Klausel gegen zwingendes Recht ergibt sich die Unwirksamkeitsfolge bereits aus § 134 BGB, weshalb es eines Rückgriffs auf die §§ 307 ff. BGB nicht mehr bedarf bzw. ein solcher keinen Sinn ergibt. Letzteres führt dazu, dass der Regelung des § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB im zum Schutz der Arbeitnehmer in der Regel (mindestens einseitig) zwingend ausgestalteten Arbeitsrecht keine allzu große Bedeutung zukommt.
Rz. 129
Für das Arbeitsrecht stellt sich allerdings die Frage, ob auch Normen in Tarifverträgen, Betriebs- oder Dienstvereinbarungen unter den Begriff der "gesetzlichen Regelung" i.S.v. § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB gefasst werden können. Diese Frage ist umstritten, nach wohl zutreffender Auffassung allerdings zu verneinen: Zwar werden auch tarifliche Regelungen und Bestimmungen in Betriebs- und Dienstvereinbarungen durchaus unter den Begriff der Rechtsvorschrift i.S.v. § 307 Abs. 3 S. 1 BGB erfasst. Dies hat allerdings seinen gesetzlichen Grund darin, dass Tarifverträge, Betriebs- und Dienstvereinbarungen in § 310 Abs. 4 S. 3 BGB ausdrücklich den Rechtsvorschriften i.S.v. § 307 Abs. 3 BGB gleichgestellt werden. Schon aus dem Fehlen einer entsprechenden Gleichstellung mit Blick auf § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB sowie aus dem Wortlaut der Norm ("gesetzliche Regelung") folgt, dass tarifliche oder betriebliche Kollektivvereinbarungen nicht hierunter fallen. Hinzu kommt, dass die Regelungen in den Abs. 2 und 3 des § 307 BGB auch erkennbar unterschiedlichen Zwecken dienen und deshalb ein unterschiedliches Verständnis der Begrifflichkeiten durchaus begründet ist: Während es in Abs. 3 um die Frage geht, ob eine Klausel in AGB überhaupt einer Angemessenheitskontrolle zugänglich ist, geht es in Abs. 2 letztlich um die Frage einer unangemessenen Abweichung vom gesetzlichen Leitbild. Leitbildfunktion in diesem Sinne kommt jedoch weder einer Betriebs-/Dienstvereinbarung noch tariflichen Regelungen zu.
Rz. 130
Zu bedenken ist weiter, dass § 307 Abs. 1 Nr. BGB nicht aus jeder Abweichung von einer gesetzlichen Vorschrift in diesem Sinne eine unangemessene Benachteiligung schließt. Erforderlich ist vielmehr, dass die vertragliche Regelung mit "wesentlichen Grundgedanken" der gesetzlichen Norm nicht zu vereinbaren ist. Dies ist nach der Rechtsprechung des BAG etwa dann der Fall, wenn eine Stichtagsklausel dazu führt, dass einem Arbeitnehmer im Nachhinein bereits erarbeiteter Lohn wieder entzogen würde. Eine solche Regelung wird häufig in deutlichem Widerspruch zu den wesentlichen Grundgedanken des § 611 BGB stehen, der eben vorsieht, dass der Arbeitnehmer als Gegenleistung für die von ihm erbrachte Arbeit einen Anspruch auf Entlohnung erwirbt.
Allgemeiner ausgedrückt, ist eine Klausel dann mit wesentlichen Grundgedanken einer gesetzlichen Norm unvereinbar, wenn sie nicht nur den AGB-disponiblen Randbereich der gesetzlichen Regelung eingreift, sondern mindestens mittelbar auch vom "Gerechtigkeitskern" der Regelung abweicht. Die Unvereinbarkeit ist letztlich wiederum durch eine Abwägung der widerstreitenden Interessen festzustellen, wobei insbesondere dem Ausmaß der Abweichung wichtige Bedeutung zukommt.