Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 113
Die unterschiedliche Berücksichtigung von Verbindlichkeiten in den nachrangigen Leistungssystemen fordert unterschiedliche rechtliche Umgehensweisen mit Sachverhalten, bei denen vorgetragen wird, dass keine bedarfsdeckenden Mittel zugeflossen seien, weil es sich ja nur um ein Darlehen gehandelt habe.
Rz. 114
Im BAföG wird der Rückzahlungsanspruch als Schuld in Abzug gebracht. SGB II und SGB XII taten sich lange Zeit mit einem klaren Ergebnis schwer, weil Zuwendungen Dritter einzusetzendes oder zu verwertendes Vermögen seien oder Einkommen wegen des Zuflusses im Bedarfszeitraum/nach Antragstellung.
Rz. 115
Statt über einen Abzug als Verbindlichkeit kann ein angemessenes Ergebnis nur so gefunden werden, dass das SGB II, das SGB XII und alle Gesetze, die darauf verweisen, nur die Zuwendungen Dritter als sozialhilfeschädlich ansehen, die eine dauerhafte wertmäßige Vermögensmehrung bewirken. Das entspricht der zivilrechtlichen Anforderung von Entreicherung und Bereicherung im Schenkungstatbestand des § 516 BGB.
Rz. 116
Fallbeispiel 16: Der hilfsbereite Onkel
Die Nichte N wird vom Jobcenter aufgefordert, Kontoauszüge vorzulegen. Die vorgelegten Kontoauszüge weisen einen Zahlungseingang von ihrem Onkel in Höhe von 1.500 EUR aus. Auf Rückfrage legt sie dazu ein an sie gerichtetes, undatiertes Schreiben mit folgendem Inhalt vor: "Liebe N, am 15.5.2013 habe ich Dir 1.500 EUR als Darlehen auf Dein Konto überwiesen. Wir haben vereinbart, dass Du mir den Betrag am 1.6.2014 zurückzahlst. Beste Grüße. Dein Onkel J".
Das Jobcenter beabsichtigt, die Leistungsbewilligung ab 15.5.2013 aufzuheben und die erbrachten Mittel zurückzufordern. N trägt vor, das Geld sei ihr von ihrem Onkel als Darlehen gewährt worden, um (von ihr im Einzelnen belegte) Ausgaben zu tätigen, die sie nicht aus dem Regelsatz habe bestreiten können. Ihrer Verpflichtung zur Rückzahlung der Darlehenssumme sei sie am 1.6.2014 durch Überweisung des Betrags in voller Höhe nachgekommen.
Rz. 117
Unstreitig sind der N Mittel zugeflossen, mit denen sie Ausgaben gedeckt hat, für die der Regelsatz nicht gereicht hat. Grundsätzlich müssen alle zufließenden Einkünfte zur Deckung des sozialhilferechtlich festgelegten Bedarfs eingesetzt werden (Selbsthilfegrundsatz).
Rz. 118
Zu prüfen ist, ob die ihr zur Verfügung gestellten Mittel tatsächlich und zur endgültigen Verwendung zur Verfügung standen (Bedarfsdeckungsgrundsatz). Das wäre nicht der Fall, wenn die Zuwendung von Mitteln von Beginn an mit einer zivilrechtlich wirksam vereinbarten Rückzahlungsverpflichtung belastet gewesen wäre. Dann würde es wegen der Rückzahlungsverpflichtung an einem wertmäßigen Zuwachs zur endgültigen Verwendung fehlen.
Rz. 119
Ergebnis Fallbeispiel 16:
So scheint es im vorliegenden Fall, den das BSG im Sinne der Hilfeempfängerin entschieden hat, weil es angesichts der Umstände des Einzelfalles davon ausgegangen ist, dass tatsächlich ein Darlehen vereinbart und zurückgezahlt worden ist.
Das BSG hat aber auch deutlich gemacht, dass man sich hier im Grenzbereich zwischen Darlehen, verdeckter Schenkung oder verdeckter, freiwilliger Unterhaltsgewährung bewegt. Um der Gefahr eines Missbrauchs von Steuermitteln entgegenzuwirken, sei es geboten, an den Nachweis des Abschlusses und der Ernstlichkeit eines Darlehensvertrages unter Verwandten strenge Anforderungen zu stellen, die eine klare und eindeutige Abgrenzung ermöglichten. Dass ein nachgewiesener Zufluss gleichwohl als Einkommen nicht zu berücksichtigen sei, betreffe die Sphäre des Hilfebedürftigen. Ihn träfen bei der Aufklärung der erforderlichen Tatsachen daher Mitwirkungspflichten. Die Nichtbeweisbarkeit der Tatsachen gehe zu seinen Lasten. Bei der vorzunehmenden Prüfung, ob überhaupt ein wirksamer Darlehensvertrag geschlossen worden sei, könnten einzelne Kriterien des sog. Fremdvergleichs herangezogen und bei der abschließenden, umfassenden Würdigung aller relevanten Umstände des Einzelfalles mit eingestellt werden.
Rz. 120
Zusammenfassung
Auch bedürftige Menschen können ihren Lebensstandard beim Bezug nachrangiger Sozialleistungen vorübergehend aufstocken, obwohl klar ist, dass man aus den Regelbedarfsleistungen eigentlich keine Rückzahlungen leisten kann, ohne seinen Lebensunterhalt zu gefährden. Es ist deshalb nicht ohne weiteres möglich, den Wunsch, einem Hilfebedürftigen "etwas Gutes zu tun", unbegrenzt dadurch zu realisieren, dass man ihm ein Darlehen auf unbestimmte Zeit – z.B. bis zum Tod des Darlehensgebers ohne oder mit Anrechnung auf den Erbteil – gibt. Das BSG verlangt für den Abschluss eines Darlehensvertrages einen plausiblen Grund.