Rz. 29
Der gewöhnliche Aufenthalt wurde früher im nationalen IPR in Deutschland als "faktischer Wohnsitz" charakterisiert, um deutlich zu machen, dass voluntative Elemente – die beim Wohnsitz so bedeutend sind – hier keine Rolle spielen. In der Tat ersetzte der EuGH das "subjektive Element" des Wohnsitzbegriffs bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes durch eher tatsächlich orientierte Merkmale, wie die familiäre und soziale Integration. Dennoch entkommt der EuGH auf diese Weise nicht vollständig einer Ermittlung des Willens.
Rz. 30
In der vom EuGH am 22.12.2010 entschiedenen Rechtssache Mercredi hatte Frau Mercredi das Kleinkind Chloé – für das sie die alleinige elterliche Sorge besaß – aus London mit dem Flugzeug nach Réunion verbracht. Der in England lebende leibliche Vater beantragte kurz darauf vor den englischen Gerichten, ihm die elterliche Sorge zu übertragen. Der Antrag wäre nach den Regeln der Brüssel IIa-VO nur dann zulässig gewesen, wenn die englischen Gerichte aufgrund eines fortbestehenden gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in England international zuständig gewesen wären. Der EuGH stellte hierbei – da es sich um ein Kleinkind ohne eigene soziale Integration handelte – darauf ab, ob auf Seiten der Mutter eine Beständigkeit des erst vor kurzem begründeten Aufenthalts in La Réunion gegeben sei. Der EuGH ging davon aus, dass trotz der Kürze des Aufenthalts auf La Réunion sich aus der Absicht der Mutter, dort dauerhaft zu bleiben, die Beständigkeit des Aufenthalts dort ergeben könne. Das ist insoweit selbstverständlich, als ein als Urlaub geplanter Aufenthalt keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründen kann und – bei Erfüllung der Voraussetzungen für eine soziale Integration im Übrigen – die Beständigkeit des Aufenthalts dann allenfalls von subjektiven Umständen abhängen kann. Einer willenszentrierten Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts hat der EuGH damit keineswegs das Wort geredet. Vielmehr ergibt sich die Bedeutung des Willens unvermeidlich daraus, dass bei einem Wechsel des Aufenthalts dessen Beständigkeit zu Beginn nur abhängig davon ermittelt werden kann, ob dieser als Provisorium oder als Dauerlösung geplant ist. Hierfür ist die Intention des Betreffenden maßgeblich, die aber wiederum an objektiven Indizien festgemacht werden kann.
Rz. 31
Schon in der Rechtssache A hat der EuGH darauf hingewiesen, dass "die Absicht der Eltern, sich mit dem Kind dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, die sich in bestimmten äußeren Umständen, wie in dem Erwerb oder der Anmietung einer Wohnung im Zuzugsstaat, manifestiert, ein Indiz für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts sein" könne. Ein entsprechendes Indiz erkannte der EuGH in der Einreichung eines Antrags auf Zuweisung einer Sozialwohnung in diesem Staat.
Rz. 32
Durch spätere Entscheidungen, die nun nicht mehr den gewöhnlichen Aufenthalt Minderjähriger, sondern den gewöhnlichen Aufenthalt Erwachsener betrafen, hat der EuGH den Stellenwert des Bleibewillens bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts erheblich aufgewertet. Das deutete sich schon in der Entscheidung zum gewöhnlichen Aufenthalt einer Erblasserin an, die aus Litauen stammte, aber nach Düsseldorf übersiedelt war, um hier mit ihrem deutschen Ehemann zusammenzuleben. Angesichts dieser Eckpunkte hätte jedes Gericht ohne Zaudern einen gewöhnlichen Aufenthalt i.S.v. Art. 4 EuErbVO in Deutschland angenommen. Dennoch war zur Abwicklung des in Litauen verbliebenen Nachlasses ein Notar mit Amtssitz in Vilnius tätig geworden. Der EuGH führte hier wörtlich Folgendes aus:
Zitat
Hierzu ist festzustellen, dass der Begriff "gewöhnlicher Aufenthalt des Erblassers im Zeitpunkt seines Todes" im Sinne der VO Nr. 650/2012 zwar in keiner Bestimmung definiert wird, jedoch die Erwägungsgründe Nummer 23 und Nummer 24 nützliche Hinweise enthalten.
Nach dem 23. Erwägungsgrund dieser Verordnung obliegt es der mit der Erbsache befassten Behörde, den gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers zu bestimmen, wobei diese Behörde sowohl den Umstand, dass der allgemeine Anknüpfungspunkt der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers im Zeitpunkt des Todes ist, als auch sämtliche Lebensumstände des Erblassers in den Jahren vor seinem Tod und im Zeitpunkt seines Todes zu beachten hat und dabei alle relevanten Tatsachen zu berücksichtigen hat, insbesondere die Dauer und die Regelmäßigkeit des Aufenthalts des Erblassers in dem betreffenden Staat sowie die damit zusammenhängenden Umstände und Gründe. Der so bestimmte gewöhnliche Aufenthalt sollte eine besonders enge und feste Verbindung zwischen dem Nachlass und dem betreffenden Staat erkennen lassen.
Insoweit sind im 24. Erwägungsgrund der Verordnung verschiedene Fälle aufgeführt, in denen es sich als komplex erweisen kann, den gewöhnlichen Aufenthalt zu bestimmen. War der Erblasser ein Staatsangehöriger eines Staates oder hatte er alle seine wesentlichen Vermögensgegenstände in diesem Staat, so könnte – wie es im letzten Sat...