Rz. 159
Häufig tritt das Problem auf, dass die Erbschaft angenommen wurde, sich im Nachhinein aber herausstellt, dass die Ausschlagung derselben wirtschaftlich vorteilhafter gewesen wäre, z.B. wenn später die Überschuldung des Nachlasses festgestellt wird. Ist ein entsprechender Irrtum gegeben, kann die Anfechtung der Annahmeerklärung erklärt und gleichzeitig die Ausschlagungserklärung abgegeben werden.
Rz. 160
Da die Annahmeerklärung eine Willenserklärung ist, gelten für deren Anfechtung die §§ 119, 120, 123 BGB. In der Praxis relevant ist der Eigenschaftsirrtum nach §§ 119 Abs. 2, 1954 BGB, sofern ein Irrtum über die Eigenschaft des Nachlasses vorliegt. Dies bedeutet, dass ein Irrtum über eine Eigenschaft der Erbschaft vorliegen muss, die im Verkehr als wesentlich anzusehen ist, um die Anfechtung erfolgreich zu gestalten. Als verkehrswesentliche Eigenschaft ist die Höhe des Erbteils im Sinne einer quotenmäßigen Beteiligung angesehen worden, das Bestehen von Beschränkungen und Beschwerungen des Erben durch Testamentsvollstreckung, Nacherbfolge, Vermächtnisse und Auflagen oder Teilungsanordnungen. Auch die Überschuldung des Nachlasses wird allgemein als verkehrswesentliche Eigenschaft angesehen. Häufig wird fälschlicherweise die Anfechtungserklärung mit einem Irrtum über die Bewertung einzelner Nachlassgegenstände begründet. Dies ist unrichtig, da sich der Irrtum auf eine falsche Vorstellung über die Zusammensetzung des Nachlasses beziehen muss. Nur dieser Irrtum ist relevant. Daher muss der Erbe dem Irrtum über einzelne Aktiva und Passiva, die dem Nachlass angehören, unterliegen, um erfolgreich anfechten zu können. Wenn sich der Erbe hingegen zur Erbschaftausschlagung auf bewusst spekulativer Grundlage über die Zusammensetzung des Nachlasses entscheidet, er insbesondere bloß vermutet, dass der Nachlass überschuldet ist, berechtigt eine sich nachträglich herausstellende Werthaltigkeit der Erbschaft nicht zur Anfechtung der Erbschaftsausschlagung. Selbst wenn sich nachträglich herausstellt, dass ein erheblicher Schmerzensgeldanspruch zur Erbmasse gehört, rechtfertigt dieser Irrtum die Anfechtung der Erbausschlagung, denn auch eine Forderung ist Teil der Zusammensetzung des Nachlasses, über die man sich irren kann.
Rz. 161
Wurde die Ausschlagung der Erbschaft für ein minderjähriges Kind familiengerichtlich genehmigt, ist zu beachten, dass diese Genehmigung auch eine etwa notwendige Anfechtung der Versäumnis der Ausschlagungsfrist nach § 1956 BGB beinhaltet. Zur Erteilung der familiengerichtlichen Genehmigung gemäß § 1643 Abs. 2 S. 1 BGB wegen Überschuldung des Nachlasses muss das Familiengericht im Rahmen seiner Amtsermittlung (§ 26 FamFG) umfassende Ermittlungen anstellen und darf sich nicht damit begnügen, nur gerichtsintern (z.B. bei der Insolvenzabteilung) abzufragen, ob auf diese Weise Anhaltspunkte für eine etwaige Überschuldung vorliegen.
Rz. 162
Hat der Erbe sich nur über die Höhe der Erbschaftsteuer geirrt oder den Wert einzelner Nachlassgegenstände falsch eingeschätzt, stellt dies einen unbeachtlichen Motivirrtum dar. Auch eine Fehleinschätzung des Ausschlagenden, wie sich die Rechtsfolge nach erklärter Ausschlagung darstellt, stellt nur einen Motivirrtum dar, der nicht zur Anfechtung der Ausschlagungserklärung berechtigt. Diese Konstellation tritt insbesondere bei der lenkenden Ausschlagung ein: Irrt sich derjenige darüber, dass seine Ausschlagung der Erbschaftsannahme einer bestimmten Person zukommen soll, was rechtlich jedoch nicht eintritt, stellt dies nur einen Motivirrtum dar, der nicht zur Anfechtung der Ausschlagungserklärung berechtigt. Dieses Ergebnis war bis zur Grundsatzentscheidung des BGH am 22.3.2023 streitig: Der BGH hat letztendlich geklärt, dass bei der fehlgeschlagenen lenkenden Ausschlagung nur eine mittelbare Rechtsfolge dahingehend eintritt, wer letztendlich Empfänger der Erbschaft wird. Ein Irrtum hierüber stellt nur einen unbeachtlichen Motivirrtum dar, der nicht zur Anfechtung nach § 119 Abs. 1 1. Alt. BGB berechtigt.
Praxishinweis
Ist eine lenkende Ausschlagung fehlgeschlagen, ist nach der dadurch eingetretenen Erbrechtsfolge zu prüfen, wie sich die Erbfolge gestaltet.
Rz. 163
Einem Nachlasspfleger steht das Recht, für unbekannte Erben die Erbschaft auszuschlagen, hingegen nicht zu, da die Ausschlagungsbefugnis ein den Erben zustehendes höchstpersönliches Recht ist.
Rz. 164
Sofern die Anfechtung der Erbausschlagung notariell beurkundet wurde und die Anfechtungserklärung per beA dem Nachlassgericht übermittelt wurde, ist diese verfristet, sofern die Originalausschlagungsurkunde nicht binnen der Anfechtungsfrist beim Nachlassgericht eingeht.
Rz. 165
In der Praxis wird nicht selten die Ausschlagung "aus allen Berufungsgründen" erklärt, was zum Teil den notariellen Formularbüchern geschuldet ist. Dabei wird unterstellt, dass der Ausschlagende keinen Wert auf irgendeine Beteiligung am Nachlass legt. Diese Art der Ausschla...