Rz. 393
Die gesteigerte Erwerbsobliegenheit hat unterschiedliche Auswirkungen für den Unterhaltsschuldner.
aa) Fiktive Einkünfte und deren Höhe
Rz. 394
Kommt der Unterhaltsschuldner seiner gesteigerten Erwerbsobliegenheit gegenüber minderjährigen und/oder privilegiert volljährigen Kinder nicht nach, indem er sich nicht in zumutbarer Weise um eine angemessene Erwerbstätigkeit bemüht und eine reale Beschäftigungschance besteht, können seinem unterhaltsrechtlichen Einkommen fiktiv Einkünfte hinzugerechnet werden, wenn die Aufnahme dieser (Neben-)Tätigkeit zumutbar ist.
Rz. 395
Praxistipp
Mit dem regelmäßigen Vorbringen, er sei nicht in Arbeit zu vermitteln oder es gäbe für ihn keine Arbeitsstelle, kann der Unterhaltsschuldner nur gehört werden, wenn seine Bemühungen um eine Arbeitsstelle hinreichend im Hinblick auf Anzahl und Inhalt der Bewerbungen sind. Hierfür ist der Unterhaltsschuldner darlegungs- und beweisbelastet.
Rz. 396
Sind die Bewerbungsbemühungen des Unterhaltspflichtigen nicht ausreichend und steht auch nicht fest, dass es für erfolgreiche Erwerbsbemühungen keine realistische Grundlage gegeben hätte, muss konsequenter Weise die Zurechnung eines fiktiven Einkommens erfolgen, sofern die zur Erfüllung der Unterhaltspflichten erforderlichen Einkünfte objektiv erzielbar und konkret festzustellen sind.
Rz. 397
Sind dem Unterhaltsschuldner aufgrund einer Verletzung seiner Erwerbsobliegenheit gegenüber dem minderjährigen und/oder privilegiert volljährigen Kind fiktive Einkünfte zuzurechnen, kann sich die Höhe der fiktiven Einkünfte nur innerhalb eines realistischen Maßstabs bewegen. Nach Auffassung des BVerfG ist eine unverhältnismäßige Belastung des Unterhaltsschuldners zu vermeiden, so dass von diesem nur die Erwirtschaftung eines objektiv durch ihn erzielbaren Einkommens verlangt werden kann. Im Rahmen dieser Erwägungen ist auf die subjektiven Verhältnisse des Unterhaltsschuldners abzustellen.
Rz. 398
Daher ist konkret von in der Person des Unterhaltsschuldners liegenden Merkmalen, also dessen Vor-, Aus- und Fortbildungsbildungsstand sowie seine praktische Erfahrung, bei der Ermittlung der fiktiven Einkünfte auszugehen. Zumindest als Indiz kann die erzielte Vergütung des Unterhaltsschuldners aus einer früheren Anstellung herangezogen werden. Mehr als Indizwirkung haben die für die jeweilige Branche geltenden Tarifverträge, die z.B. im Internet-Tarifarchiv der Hans-Böckler-Stiftung eingesehen werden können. Im Internet zur Verfügung stehende Informationen über erzielbare Einkünfte werden mittlerweile auch von Gerichten verwendet.
Rz. 399
Vor Einführung des Mindestlohns wurden für ungelernte Arbeitskräfte im Bereich der Arbeitsüberlassung Stundenlöhne zwischen 6,50 EUR und 7,50 EUR in Ansatz gebracht. Mit Einführung des gesetzlichen Mindestlohns ab 1.1.2015 ist jedenfalls ein Stundenlohn in Höhe von derzeit (ab 1.1.2020) 9,35 EUR für die Ermittlung fiktiver Einkünfte heranzuziehen.
Rz. 400
Nicht möglich ist der Rückschluss, der vielfach in der Rechtsprechung gezogen wird, dass der Unterhaltsschuldner im Rahmen der gesteigerten Erwerbsobliegenheit in der Lage sein muss, zumindest den Mindestunterhalt zu bezahlen. Dieser Ansatz steht in offensichtlichem Widerspruch zur Rechtsprechung des BVerfG, wonach anhand der in der Person des Unterhaltsschuldners liegenden Umstände eine umfassende Zumutbarkeitsprüfung vorzunehmen ist.
Rz. 401
Praxistipp
Bei der Bemessung fiktiver Einkünfte darf nicht außer Acht gelassen werden, dass eine Zurechnung nur erfolgen kann, wenn und soweit der Unterhaltsschuldner im Unterhaltsrechtsverhältnis zu minderjährigen oder privilegiert volljährigen Kindern gegen die gesteigerte Erwerbsobliegenheit verstoßen hat und ihm ein verantwortungsloses, zumindest leichtfertiges Fehlverhalten vorzuwerfen ist.
Rz. 402
Dem Unterhaltspflichtigen sind fiktive Einkünfte aus allen Einkunftsarten zuzurechnen. Dies gilt insbesondere auch für Mieteinnahmen, so sind im Umfang des Miteigentumsanteils an einer Dachwohnung die Mieteinkünfte – fiktiv – zuzurechnen, wenn der Unterhaltspflichtige die mit Blick auf die fehlende Beheizbarkeit und die zerborstenen Heizungsrohre/Heizkörper erfolgte Beendigung des Mietverhältnisses verschuldet hat, weil er sich nicht um eine umgehende Heizungsreparatur bemüht hat.
bb) Einsatz des Vermögensstamms durch den Unterhaltsschuldner
Rz. 403
Im Rahmen der verschärften Haftung des § 1603 Abs. 2 Satz 1 und 2 besteht für den Unterhaltsschuldner nicht nur die gesteigerte Erwerbsobliegenheit hinsichtlich des Einsatzes seiner Arbeitskraft. Vielmehr m...