Dr. Detlef Grimm, Dr. Stefan Freh
Rz. 499
Aus dem Gesetz lassen sich keine Anhaltspunkte herleiten, wie das BEM auszusehen hat, es schreibt lediglich gewisse Mindeststandards vor, die einzuhalten sind. Das BAG hat in mehreren Entscheidungen seine bisherige Rechtsprechung zum BEM fortgeführt und überzeugende Grundsätze zur Durchführung bzw. Nichtdurchführung eines BEM aufgestellt und auf die entsprechenden Rechtsfolgen hingewiesen. Entscheidend dabei ist, dass es sich von sämtlichen in den Instanzgerichten teilweise alle Beteiligten überfordernden Anforderungen abgewendet hat und Orientierungspunkte für die betriebliche Praxis aufgestellt hat und damit den notwendigen Spielraum einräumt, den ein derartiges Verfahren zur gerechten Beurteilung jedes Einzelfalles benötigt. Das BAG führt dazu in ständiger Rechtsprechung aus, dass es sich beim BEM "um einen rechtlich regulierten verlaufs- und ergebnisoffenen Suchprozess handelt, der individuell angepasste Lösungen zur Vermeidung zukünftiger Arbeitsunfähigkeit ermitteln soll" und in den auch der betroffene Arbeitnehmer eigene Vorschläge einbringen kann.
Rz. 500
Dem Arbeitgeber wird für das BEM ein weitreichender Handlungsspielraum zur Verfügung gestellt. Hervorzuheben ist jedoch, dass ein nicht entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen durchgeführtes Eingliederungsmanagement Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit einer krankheitsbedingten Kündigung haben kann. Die Rechtsprechung des BAG zu § 167 Abs. 2 SGB IX macht zunehmend die krankheitsbedingte Kündigung insbesondere bei häufigen Kurzerkrankungen dann unmöglich, wenn nicht alle formalen und inhaltlichen Voraussetzungen des § 167 Abs. 2 SGB IX erfüllt sind. Das LAG Rheinland-Pfalz hat nachvollziehbar dargelegt, dass es keines BEM-Verfahrens bedarf, wenn der Arbeitnehmer ausweislich medizinischer Gutachten nicht mehr in der Lage ist, am Arbeitsleben teilzunehmen und bei objektiver Betrachtung kein Anhaltspunkt zur Fortsetzung seiner Tätigkeit besteht. Im Hinblick auf die Rechtsprechung des BAGs zu dieser Frage kann von einem derartigen Verzicht nur abgeraten werden.
Das gesamte Kündigungsrecht ist geprägt vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Eine Kündigung ist unverhältnismäßig und damit unwirksam, wenn sie durch mildere Mittel vermieden werden kann, d.h. wenn die Kündigung nicht zur Beseitigung der betrieblichen Beeinträchtigungen bzw. der eingetretenen Vertragsstörung geeignet oder nicht erforderlich ist. Dieser Grundsatz wird in § 167 Abs. 2 SGB IX konkretisiert. Zwar ist das BEM als solches kein milderes Mittel, aber durch das BEM können mildere Mittel wie z.B. die Umgestaltung des Arbeitsplatzes oder die Weiterbeschäftigung auf einem – notfalls freizumachenden – anderen Arbeitsplatz entdeckt und realisiert werden.
Das BAG hat nunmehr klargestellt, dass die Zustimmung des Integrationsamts zu einer krankheitsbedingten Kündigung nicht die Vermutung begründet, dass ein (unterbliebenes) BEM die Kündigung nicht hätte verhindern können.
Rz. 501
Das BEM ist ein individuelles Verfahren, welches kein formalisiertes betriebliches Ablaufschema erfordert. Völlig ausreichend ist, dass der Arbeitgeber die in § 167 Abs. 2 SGB IX inhaltlich vorgesehenen Schritte und Maßnahmen prüft und durchführt. Auch hierbei gilt der Grundsatz, dass eine formelle Bezeichnung nicht erforderlich ist. Entscheidend ist vielmehr, dass der Arbeitgeber die Prüfung durchführt und mit diesem Verfahren einen unverstellten, verlaufs- und ergebnisoffenen Suchprozess etabliert. Durch die Einführung des Art. 7 Nr. 21a des Teilhabestärkungsgesetzes vom 2.6.2021 hat der Gesetzgeber nunmehr klargestellt, dass "Beschäftigte zusätzlich eine Vertrauensperson eigener Wahl hinzuziehen können." Der Gesetzgeber wollte damit insbesondere die Interessen der Beschäftigten in Betrieben ohne eine Interessensvertretung stärken; mit dem Hinweis "zusätzlich" wird jedoch klargestellt, dass es sich neben Interessensvertretern, wie z.B. der Schwerbehindertenvertretung, auch um einen Rechtsbeistand handeln kann. Hier gab es erhebliche Kritik an der Rechtsprechung.
Allerdings werden nach § 167 Abs. 4 SGB IX die Rehabilitationsträger oder bei schwerbehinderten Beschäftigten das Integrationsamt hinzugezogen soweit Leistungen zur Teilhabe oder begleitende Hilfen im Arbeitsleben in Betracht kommen. Das LAG Hessen sieht für den Fall, dass der Arbeitgeber den Beschäftigten bereits in der Einladung zum BEM-Verfahren auf diese Hilfen nicht spezifisch hinweist, einen Formfehler, der das gesamte BEM-Verfahren unwirksam werden lässt.
Rz. 502
Das BAG hat nunmehr zudem klargestellt, dass § 167 Abs. 2 SGB IX eine schriftliche Zustimmung des Arbeitnehmers in die Verarbeitung seiner im Rahmen eines BEM erhobenen personenbezogenen und Gesundheitsdaten nicht als tatbestandliche Voraussetzung für die Durchführung eines BEM vorsieht. Es sei dem Arbeitgeber auch ohne eine datenschutzrechtliche Einwilligung möglich und zumutbar, zunächst mit dem b...