Rz. 77
Aus der Sicht des Mandanten und seines Rechtsberaters ergibt sich das Recht, das auf den Mandatsgegenstand anzuwenden ist, in erster Linie aus dem Gesetz und aus dessen Anwendung durch die Gerichte in früheren, gleichgelagerten Fällen ("Präjudizien"). Maßgeblich ist v.a. die "höchstrichterliche Rechtsprechung", die i.d.R. die Spitze einer "anerkannten" oder "herrschenden Meinung" in einer Rechtsfrage ist.
Daran sind beteiligt:
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das BVerfG wegen der Verbindlichkeit seiner Entscheidungen gem. § 31 BVerfGG, |
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die obersten Gerichtshöfe des Bundes (vgl. Art. 95 GG), |
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der Gerichtshof der Europäischen Union bzgl. des Gemeinschaftsrechts der EU und |
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der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bzgl. der Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention, die i.R.d. Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) zu berücksichtigen ist. |
(1) Richtungweisende Bedeutung
Rz. 78
Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat "richtungweisende Bedeutung" für die Anwendung und Entwicklung des Rechts, auch zur Wahrung der Rechtseinheit und zur Rechtsfortbildung. Sie prägt die Entscheidungen der Instanzgerichte und die juristische Praxis.
(2) Maßgeblich für Rechtsberater
Rz. 79
Der Rechtsanwalt und der Steuerberater haben die Wahrnehmung ihrer Mandate grds. an der – jeweils aktuellen – höchstrichterlichen Rechtsprechung im Zeitpunkt der Beratung auszurichten. Dies gilt auch dann, wenn es sich aus der Sicht des beauftragten Anwalts um ein rechtliches Sondergebiet handelt. Die höchstrichterliche Rechtsprechung ist grds. auch dann maßgeblich, wenn sie von Instanzgerichten und/oder im Schrifttum abgelehnt und auch vom Rechtsberater selbst nicht geteilt wird.
Zu beachten hat der Rechtsberater die höchstrichterliche Rechtsprechung derjenigen Gerichtsbarkeit, der der Mandatsgegenstand unterliegt, es sei denn, dass diese Rechtsprechung ausnahmsweise allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen widerspricht oder mit der Verfassung nicht vereinbar ist. Das betrifft insb. Inhalt und Umfang der Vertragspflichten eines Rechtsanwalts oder Steuerberaters; in einem Regressprozess ergibt sich häufig spiegelbildlich aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung der einschlägigen Gerichtsbarkeit, ob dem Mandanten aus der schuldhaften Verletzung dieser Pflichten ein ersatzfähiger Schaden im Rechtssinne entstanden ist (vgl. § 5 Rdn 85 ff.). Im Rahmen solcher Prüfungen ist z.B. zu ermitteln, ob nach der Rechtsprechung
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des BAG die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses sozial gerechtfertigt war; |
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des BFH bei verdeckter Treuhandschaft der Vorsteuerabzug dem Treuhänder oder Treugeber zusteht, Zuwendungen an den Gesellschafter-Geschäftsführer einer "Einmann"-GmbH als Betriebsausgaben anzuerkennen sind oder eine Aufdeckung stiller Reserven vorliegt; |
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des BVerwG eine "Milch-Referenzmenge" auf den Erwerber eines Hofes übergegangen ist; |
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des BSG die Befreiung von Arbeitnehmern von der gesetzlichen Krankenversicherungspflicht wirksam ist. |
Von einem Rechtsanwalt, der das Mandat zur Führung eines Prozesses vor dem BVerfG annimmt, kann verlangt werden, dass er sich mit der verfassungsrechtlichen Materie auseinandersetzt, die Rechtsprechung des BVerfG zu den aufgeworfenen Fragen prüft, die Erfolgsaussichten einer beabsichtigten Verfassungsbeschwerde eingehend abwägt und sich entsprechend den Ergebnissen seiner Prüfung verhält. Tut er das nicht, sind nicht nur die Voraussetzungen für die Auferlegung einer Missbrauchsgebühr erfüllt, sondern es liegt auch eine Pflichtverletzung vor, die ggü. dem Mandanten zum Schadensersatz verpflichten kann.