Rz. 114
Gibt es mehrere rechtlich gangbare Wege zu dem erstrebten Ziel, so hat der Rechtsanwalt oder Steuerberater – vorausschauend ("ex ante") – den "sichersten und gefahrlosesten Weg" zu empfehlen, d.h. diejenige Maßnahme vorzuschlagen, mit der das Ziel voraussichtlich mit größter Sicherheit erreicht werden kann.
Rz. 115
Besondere Bedeutung hat der Grundsatz im Verjährungsrecht. Ist unklar, nach welcher Vorschrift oder nach welcher Maßgabe ein Anspruch verjährt, hat der Rechtsanwalt die für seinen Mandanten ungünstigste vertretbare Möglichkeit zugrunde zu legen und für eine Sicherung des Anspruchs zu sorgen. Grds. muss der Anwalt damit rechnen, dass sich die zur Entscheidung berufene Stelle der dem Auftraggeber ungünstig(st)en vertretbaren Möglichkeit anschließt. Der Anwalt muss aber nur eine verjährungshemmende Maßnahme ergreifen, nicht mehrere. Neben der Führung von Verhandlungen gem. § 203 BGB ist deshalb eine Rechtsverfolgung nach § 204 BGB nicht erforderlich.
Rz. 116
Einen Weg, der dem Mandanten mit absoluter Sicherheit und ohne jede Gefahr rechtlichen Erfolg bietet, gibt es nicht. Das Gebot, den "relativ sichersten Weg" vorzuschlagen – und regelmäßig zur Schadensverhütung auch zu beschreiten (vgl. Rdn 129 ff.) – bedeutet nur, dass der Anwalt zur Sicherung des Mandatsziels grds. diejenige – rechtlich einwandfreie – Maßnahme wählen soll, die mehr Erfolg verspricht als andere gangbare Schritte und daher sicherer ist.
Rz. 117
Dieses "Gebot des sichersten Weges" verknüpft die anwaltlichen Grundpflichten zur Rechtsbetreuung und Schadensverhütung. Deswegen kann sich dieses Gebot mit demjenigen, voraussehbare und vermeidbare Schäden des Auftraggebers zu vermeiden (vgl. Rdn 129 ff.), überschneiden. Die Sach- oder Rechtslage kann so unklar sein, dass letztlich mehrere gangbare Wege gar nicht zur Verfügung stehen; dann muss der Rechtsanwalt den einzigen richtigen Weg wählen, Vorsorge zu treffen für die seinem Auftraggeber ungünstigste Wendung der Sach- und Rechtslage (vgl. Rdn 121 ff.).
(1) Beispiele
Rz. 118
Das "Gebot des sichersten Weges" hat ein Rechtsanwalt z.B. in folgenden Fällen zu beachten:
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Kann es auf den Zugang einer empfangsbedürftigen Willenserklärung des Mandanten oder für den Mandanten ankommen, so ist die Zustellung (vgl. § 132 BGB) oder eine zustellungsartige Übermittlung – z.B. ein Einschreiben mit Rückschein – wegen des damit verbundenen Zugangsnachweises sicherer als ein gewöhnlicher Brief oder ein einfaches Einschreiben. Eine Mitteilung des Rechtsanwalts an seinen Mandanten über den Inhalt einer gerichtlichen Entscheidung und mögliche Rechtsmittel kann dagegen mit einfachem Brief versandt werden; eine Nachfrage ist in diesem Fall trotz Schweigens des Mandanten im Regelfall nicht erforderlich. Auf das Verhältnis von Rechtsanwalt und Mandant ist hier nämlich der Grundsatz des sichersten Weges nicht anzuwenden. |
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Soll ein Rechtsanwalt für seinen Mandanten eine Gesellschaft am letzten Tag der Frist kündigen, so ist es möglich, dass die Gegenseite einräumt, von der Bevollmächtigung durch den Vollmachtgeber in Kenntnis gesetzt worden zu sein (vgl. § 174 Satz 2 BGB). Für den nicht auszuschließenden Fall, dass dies doch bestritten wird, ist es sicherer, dass der Anwalt mit der Kündigungserklärung eine Vollmachtsurkunde vorlegt (§ 174 Satz 1 BGB). |
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Soll der Rechtsanwalt einen Vertrag seines Auftraggebers für die Zukunft beenden, so kann es ausreichen, dass der Anwalt ggü. dem Vertragsgegner zu erkennen gibt, sein Mandant wolle von dem Vertrag Abstand nehmen. Sicherer und frei von der Gefahr eines Missverständnisses ist eine eindeutige Wortwahl unter Gebrauch des einschlägigen Fachausdrucks – "Kündigung", nicht "Rück... |