Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 759
Die Beschränkung der Ersatzpflicht des Schädigers auf Schäden, die in den Schutzbereich der verletzten Norm fallen, entspricht einem Grundprinzip des heutigen Schadensersatzrechts und ist für Schadensersatzansprüche aller Art anerkannt. Deshalb betrifft die Tierhalterhaftung nur solche Fälle, in denen sich eine typische Tiergefahr realisiert hat. Die typische Tiergefahr äußert sich nach ständiger Rechtsprechung des BGH in einem der tierischen Natur entsprechenden unberechenbaren und selbstständigen Verhalten des Tieres. Trotz der hieran in der Literatur geäußerten Kritik besteht kein Grund, eine umfassende Haftung des Tierhalters anzunehmen, etwa weil ohnehin umfassender Versicherungsschutz des Tierhalters bestünde. Die Definition des BGH erweist sich in der Praxis als gut handhabbar. Sie umfasst Verhaltensweisen, die der tierischen Natur voll und ganz entsprechen – etwa das Decken einer Rassehündin durch einen Mischlingsrüden oder das Buckeln eines Reitpferdes – und setzt kein tierisches Fehlverhalten voraus.
Rz. 760
Beispiele:
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Die typische Tiergefahr verwirklicht sich unzweifelhaft beim Beißen von Hunden, beim Scheuen, Ausschlagen oder Durchgehen von Pferden oder beim Ausbrechen von Weidevieh. |
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Ist ein Tier aus eigener Kraft auf die Fahrbahn gelangt und bildet es dort ein Verkehrshindernis, verwirklicht sich darin die typische Tiergefahr, selbst wenn es im Kollisionszeitpunkt bereits tot ist. |
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Ebenfalls auf typischer Tiergefahr beruhen Schäden infolge tierischer Ausscheidungen, bei Krankheitsübertragung durch Beschnüffeln, Stolpern über einen im Ladenlokal liegenden Hund, Kollision einer Brieftaube mit einem Flugzeug und Reitunfälle. |
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Auch bei Reflexbewegungen, etwa beim Ausschlagen des zum Kastrieren niedergelegten Hengstes oder beim Biss eines in Vollnarkose befindlichen Hundes wirken sich die besonderen Tiereigenschaften und die Unberechenbarkeit tierischen Verhaltens aus. |
Rz. 761
Die Tiergefahr fehlt hingegen mangels selbsttätigen Verhaltens, wenn das Tier als bloßes mechanisches Werkzeug wirkt (z.B. als Wurfgeschoss) oder wenn es so sehr der Einwirkung durch äußere Kräfte ausgesetzt war, dass ihm keine andere Möglichkeit als die des schädigenden Verhaltens blieb. Dasselbe gilt, wenn das Tier wie jeder andere Gegenstand nur aufgrund seiner Größe oder seines Gewichts wirkt.
Rz. 762
Folgt ein Tier dem Willen sowie der Leitung des Menschen und entsteht hierbei ein Schaden, wirkt sich hierin die typische Tiergefahr aus. Das Reichsgericht hatte vor der Einfügung des § 833 S. 2 BGB entschieden, dass für einen solchen Schaden der Tierleiter, der sich des Tieres als Werkzeug bedient, verantwortlich ist und nicht der Tierhalter. Nachfolgend ist mehrfach entschieden worden, dass bei Entstehung des Schadens infolge der Verwendung des Tieres als Werkzeug die Tierhalterhaftung entfalle, weil sich dann nicht mehr die spezifische Tiergefahr auswirke. Dem ist zu widersprechen. Denn zu den tierischen Eigenarten gehört es, der menschlichen Leitung gegebenenfalls bedingungslos und nicht durch Vernunft gehemmt zu folgen. Entsteht hieraus, etwa durch das Hetzen eines Hundes oder das kontrollierte Führen eines Pferdegespanns, ein Schaden, so verwirklicht sich gerade darin die typische Tiergefahr. Hinzu kommt in solchen Fällen oft noch die tiertypische Energie und Dynamik des tierischen Bewegungsablaufs.