Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 161
In manchen Entscheidungen wird bei den Zurechnungserwägungen nicht nach dem Schutzzweck der anzuwendenden Normen gefragt, sondern unmittelbar auf den (bejahten oder verneinten) Zurechnungszusammenhang abgestellt. Ein dogmatischer oder sonst wie erheblicher Unterschied ist insoweit nicht festzustellen. In der Sache geht es auch hier um die Frage, ob ein an sich äquivalent und adäquat kausales Verhalten bei wertender Betrachtung noch als haftungsrechtlich relevant behandelt werden darf.
Rz. 162
Die Grenze der Zurechnung kann nur im Einzelfall wertend ermittelt werden. Wenn etwa ein Fahrzeuginsasse aussteigt und die Fahrbahn betritt, um andere Fahrzeuge anzuhalten, und hierbei verunglückt, oder wenn aufgrund eines Verkehrsunfalls ein Pkw ein Hindernis bildet, durch das ein weiteres an dem ersten Unfall unbeteiligtes Fahrzeug verunglückt, ist der Zurechnungszusammenhang erst dann zu verneinen, wenn der erste Unfall nur äußerer Anlass für den Folgeunfall gewesen ist, aber ein erhebliches eigenständiges Fehlverhalten des Dritten zu einem Zweitunfall führt. Steigt aus einem auf dem Standstreifen der Autobahn liegen gebliebenen Pkw ein betrunkener Fahrer oder Beifahrer aus und tritt er auf die Fahrbahn, um andere Fahrzeuge anzuhalten, wodurch er einen Verkehrsunfall auf der Autobahn verursacht, ist der Zurechnungszusammenhang zur Betriebsgefahr des liegen gebliebenen Fahrzeugs nicht unterbrochen.
Rz. 163
Hingegen kann etwa der haftungsrechtliche Zurechnungszusammenhang zwischen einem Erstunfall, durch den es zur Teilsperrung einer Autobahn kommt, und den Schadensfolgen eines Zweitunfalls, der dadurch verursacht wird, dass ein Kraftfahrer ungebremst in die durch den Erstunfall veranlassten ordnungsgemäßen Absicherungsmaßnahmen fährt, zu verneinen sein, wenn der Auffahrende ohne die der Tageszeit und Wetterlage angemessene Aufmerksamkeit ungebremst auf das gut abgesicherte Hindernis aufgefahren ist und auch auf jedes andere gut abgesicherte Hindernis aufgefahren wäre; in einem solchen Fall kann auch die Abwägung der Betriebsgefahren der beteiligten Kraftfahrzeuge zu dem Ergebnis führen, dass der Verursacher des Erstunfalls für die Schäden des Zweitunfalls nicht haftet. Fährt ein Lkw wegen bezogen auf die Witterungsverhältnisse (Glatteis) unangepasster und unaufmerksamer Fahrweise gegen einen Rettungshubschrauber, der wegen eines vorangegangenen Unfalls auf der Straße gelandet ist, so kann der Verursacher des Erstunfalls für den an dem Hubschrauber entstandenen Schaden mangels Zurechnungszusammenhangs nicht in Anspruch genommen werden. Die Rechtsprechung, nach der dann, wenn eine psychische Gesundheitsbeeinträchtigung auf das Miterleben eines schweren Unfalls zurückgeführt wird, eine Haftung des Schädigers regelmäßig nicht in Betracht kommt, wenn der Geschädigte nicht selbst unmittelbar an dem Unfall beteiligt war, beruht, wie der Hinweis auf das allgemeine Lebensrisiko zeigt, letztlich auch auf einer Verneinung des Zurechnungszusammenhangs in solchen Fällen. Auf dieser Linie liegt es, wenn der Zurechnungszusammenhang zwischen dem einem Berufshelfer entstandenen Schaden und einem Unfallereignis verneint wird, sofern der Helfer erst nachträglich von Berufs wegen an der Unfallstelle tätig wird.
Rz. 164
Bei Verkehrsunfällen ist zu beachten, dass zwischen der Zurechnung im Rahmen der Verschuldenshaftung und der Zurechnung zur Betriebsgefahr an sich zu unterscheiden ist. Doch sollte die wertende Betrachtung in der Regel hinsichtlich beider Haftungsgrundlagen zum gleichen Ergebnis führen.