Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 37
Die Frage nach dem Vorliegen eines Schockschadens betrifft häufig Fälle, in denen das durch die schwere Verletzung eines Angehörigen ausgelöste Leid durch eine finanzielle Leistung des Schädigers zumindest symbolisch kompensiert werden soll. Es wurde vielfach diskutiert, ob im deutschen Recht ein Angehörigenschmerzensgeld eingeführt werden soll, wie es andere Rechtsordnungen kennen.
Rz. 38
Der 50. Deutsche Verkehrsgerichtstag 2012 hat das Thema "Ansprüche naher Angehöriger von Unfallopfern" erörtert. Die Empfehlung geht dahin, eine finanzielle Entschädigung für nächste Angehörige Getöteter könne als Symbol für Mitgefühl mit dem seelischen Leid Genugtuung schaffen und ein Gefühl von Gerechtigkeit vermitteln. Die nach der Rechtsprechung gegebenen Ansprüche Angehöriger wegen eines "Schockschadens" würden dem derzeit nicht gerecht. In den Fällen fremd verursachter Tötung eines nahen Angehörigen solle ein Entschädigungsanspruch für Ehe- und Lebenspartner sowie Eltern und Kinder geschaffen werden. Nach Auffassung des Arbeitskreises sollte dieser durch die Legislative entwickelt werden. Die Bemessung sollte den Gerichten nach den Umständen des Einzelfalls überlassen bleiben.
Rz. 39
Inzwischen hat der Gesetzgeber durch § 844 Abs. 3 BGB das Hinterbliebenengeld eingeführt, mit dem der Forderung nach einer Kompensation des Leides Angehöriger Rechnung getragen werden soll (dazu § 15 Rdn 14 ff.).
Rz. 40
Schockschäden sind Fälle psychisch vermittelter Kausalität. Die Rechtsprechung ist insoweit eher zurückhaltend. Die seelische Erschütterung durch die Nachricht vom tödlichen Unfall eines Angehörigen begründet einen Schadensersatzanspruch gegen den Verursacher des Unfalls nicht schon dann, wenn sie zwar medizinisch erfassbare Auswirkungen hat, diese aber nicht über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen, denen nahe Angehörige bei Todesnachrichten erfahrungsgemäß ausgesetzt sind. Der Schutzzweck des § 823 Abs. 1 BGB deckt aber Gesundheitsbeschädigungen, die nach Art und Schwere diesen Rahmen überschreiten. Entscheidend ist dabei nicht alleine die medizinische Relevanz für die körperliche Befindlichkeit. Auch psychische Beeinträchtigungen sind haftungsrechtlich relevant, wenn sie pathologisch fassbar sind und deshalb nach der allgemeinen Verkehrsauffassung als Verletzung des Körpers oder der Gesundheit angesehen werden müssen.
Rz. 41
Nahe Angehörige des Getöteten (oder eines schwer Verletzten, s.u.) können also selbst einen eigenen Schmerzensgeldanspruch erwerben und darüber hinaus auch einen Anspruch auf Ersatz materieller Personenschäden. Zu den eventuell anspruchsberechtigten Angehörigen gehören auf jeden Fall Ehegatten, Partner (§ 1 Abs. 1 LPartG), Eltern und Kinder sowie Partner einer verfestigten nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Ob im Einzelfall weitere Personen einzubeziehen sind, sollte sich nicht nach dem Familienstand richten, sondern danach, ob es sich faktisch um einen "nahen Angehörigen" handelt. So kann etwa auch ein bereits mehrere Monate getrennt lebender Ehegatte noch naher Angehöriger sein.
Rz. 42
Voraussetzung für einen Anspruch ist, dass bei den Angehörigen durch den Tod (oder die schwere Verletzung) eine (psychische) Erkrankung ausgelöst worden ist. Trauer, Kummer und seelischer Schmerz reichen allein nicht aus, sie gehören zum allgemeinen Lebensrisiko. Es handelt sich in diesen Fällen bei dem Schaden des nahen Angehörigen nicht um einen (nicht ersatzpflichtigen) Drittschaden, sondern um einen unmittelbaren (Fernwirkungs-)Schaden: Der Schädiger verletzt neben dem Unfallopfer zugleich auch – im Wege psychisch vermittelter Kausalität – den nahen Angehörigen. Bei der Beurteilung der Frage, ob psychische Beeinträchtigungen infolge des Unfalltodes naher Angehöriger eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB darstellen, kommt dem Umstand maßgebliche Bedeutung zu, ob die Beeinträchtigungen auf die direkte Beteiligung des "Schockgeschädigten" an dem Unfall oder das Miterleben des Unfalls zurückzuführen oder ob sie durch den Erhalt einer Unfallnachricht ausgelöst worden sind.
Rz. 43
Gleichwohl wirkt sich ein Mitverschulden des Getöteten schmerzensgeldmindernd aus, wenn der "Schock" auf der Bindung des Angehörigen an den Getöteten (oder Verletzten) beruht. Ersatzansprüche wegen eines erlittenen Schockschadens bestehen deshalb z.B. nicht, wenn die bei einem Kfz-Unfall tödlich verletzte volljährige Tochter der Betroffenen den Unfall als Fußgängerin grob schuldhaft verursacht hat und der Kraftfahrer ihn nicht vermeiden konnte. Die Haftung des Schädigers für psychische Beeinträchtigungen kann zu verneinen sein, wenn der Geschädigte es unterlässt, sich einer (weiteren) Behandlung zu unterziehen.
Rz. 44
Ein Anspruch kann beispielsweise bestehen, wenn eine Mutter seit dem Tod ihres Sohnes unter einer schweren depressiven Störung leidet, Kinder traumatisch bedingte psychische Störungen von Krankheitswert entwickeln, weil sie den Tod der Mutter b...