Rz. 142

Nicht abschließend geklärt ist, ob ab einem bestimmten Nachlassumfang die Sittenwidrigkeitsgrenze bei einem Behinderten- oder Bedürftigentestament erreicht sein könnte.[186]

Der BGH hat dies in seiner ersten Entscheidung zum Behindertentestament zwar noch ausdrücklich offengelassen.[187] In der nachfolgenden, bestätigenden Entscheidung ist der Bundesgerichtshof auf dieselben Wirksamkeitsbedenken trotz des deutlich werthaltigeren Nachlasses allerdings nicht mehr eingegangen.[188]

 

Rz. 143

Das OLG Hamm hat als erstes Obergericht im Jahr 2016 entschieden, dass für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit eines Behindertentestaments nicht danach zu differenzieren ist, wie groß das hinterlassene Vermögen ist.[189] Es sei weder eine klar umrissene Wertung des Gesetzgebers noch eine allgemeine Rechtsauffassung festzustellen, dass Eltern einem behinderten Kind ab einer gewissen Größe ihres Vermögens einen über den Pflichtteil hinausgehenden Erbteil hinterlassen müssen, damit es nicht ausschließlich der Allgemeinheit zur Last fällt.[190] Zur Begründung verwies das OLG Hamm neben der gefestigten Rechtsprechung des BGH auch darauf, dass der Gesetzgeber trotz Kenntnis der Rechtsprechung eben dieser nicht entgegengewirkt habe, sondern vielmehr mit dem Bundesteilhabegesetz[191] behinderten Menschen unter anderem dadurch eine bessere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen wolle, dass ihnen weitere Erleichterungen bei der Anrechnung von eigenem Einkommen und ein gegenüber dem bisherigen Recht deutlich erhöhten Vermögensfreibetrag gewährt werden, damit sie eine angemessene Lebensführung und Altersabsicherung selbst sicherstellen können.[192] Diese rechtspolitische Entscheidung dürfe nicht durch das Verdikt der Sittenwidrigkeit umgangen werden.[193]

 

Rz. 144

Wenn man demgegenüber die Zuwendungshöhe in die Beurteilung der Sittenwidrigkeit einfließen lassen wollte, spricht sich Wendt jedenfalls vor dem Hintergrund der Anerkennung familiärer Leistungen bei dauernder Versorgung Behinderter bzw. Bedürftiger ausdrücklich dafür aus, dass die von § 138 Abs. 1 BGB abstrakt gezogene Grenze allenfalls dann überschritten sein könnte, wenn ein deutliches Missverhältnis zwischen den von der Familie durch die Behinderung über möglicherweise einen langen Zeitraum geforderten Leistungen und dem abzuschirmenden Familienvermögen besteht.[194] Allein auf die voraussichtlichen Kosten der Heimunterbringung sowie der dem Behinderten zugedachten Vorteile bei normaler Lebenserwartung zuzüglich der Testamentsvollstreckervergütung abzustellen,[195] sei hingegen abzulehnen, dies allein schon deshalb, weil der Erblasser den Behinderten ohne Weiteres enterben könnte, sodass diesem lediglich der Pflichtteil bliebe.[196]

[186] Ablehnend bereits Kübler, Das sogenannte Behindertentestament unter besonderer Berücksichtigung der Stellung des Betreuers, Diss. München 1998, S. 81 ff.
[187] BGH, 21.3.1990 – IV ZR 169/89, juris Rn 21, BGHZ 111, 36: "Als sittenwidrig kann der Senat die Zuwendung an die Beklagte aber auch nicht deshalb ansehen, weil der Klägerin auf diese Weise die Chance entgeht, wegen der ihr entstehenden Aufwendungen für die behinderte Tochter nach dem Tode des Erblassers auf dessen verhältnismäßig bescheidenes Erblasservermögen zuzugreifen. Der in § 2 BSHG, § 9 SGB I normierte Nachrang der Sozialhilfe (Subsidiaritätsprinzip) ist hier nicht in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise unterlaufen. Nicht zu entscheiden ist, ob das anders sein könnte, wenn der Erblasser ein beträchtliches Vermögen hinterlassen hätte und der Pflichtteil des Behinderten so hoch wäre, daß daraus – oder sogar nur aus den Früchten – seine Versorgung sichergestellt wäre."
[189] Der Wert des Erbanteils des Behinderten betrug dort 960.000 EUR, OLG Hamm, Urt. v. 27.10.2016 – 10 U 13/16, juris Rn 74, ZEV 2017, 158.
[190] OLG Hamm, Urt. v. 27.10.2016 – 10 U 13/16, juris Leitsatz, Rn 84, ZEV 2017, 158.
[191] Dieses wurde am 23.12.2016 verkündet und tritt in mehreren Reformstufen bis 2023 in Kraft. Es strebt ausdrücklich die Verwirklichung von Menschenrechten durch gleichberechtigte Teilhabe am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben als maßgebendem Ziel der Behindertenpolitik an, vgl. BT-Drucks 18/9522, S. 188.
[192] OLG Hamm, Urt. v. 27.10.2016 – 10 U 13/16, juris Rn 93 f., 95 mit Verweis auf Entwurf des BTHG in der Fassung vom 22.6.2016 unter Abschnitt B, ZEV 2017, 158.
[193] OLG Hamm, Urt. v. 27.10.2016 – 10 U 13/16, juris Rn 93, ZEV 2017, 158.
[194] Wendt, Signalwirkung: Umfassende Geltung des Bedürftigentestaments – selbst bei größeren Nachlässen, ErbR 2017, 403, 406.
[195] Dies erwägend, aber letztlich offenlassend OVG Saarland, Urt. v. 17.3.2006 – 3 R 2/05, juris Rn 62, ZErb 2006, 275.
[196] Wendt, Signalwirkung: Umfassende Geltung des Bedürftigentestaments – selbst bei größeren Nachlässen, ErbR 2017, 403, 405 m.w.N.; ähnlich bereits Wendt, Grenzen der Pflichtteilsbeeinflussung, ZErb 2012, 290, ...

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