Rz. 28
Das Herausschälen der Interessen hinter den Themen, genauer hinter den Positionen, die von den Beteiligten geäußert werden, erfolgt in der nächsten Mediationsverfahrensstufe – einer Kernstufe! Wer hier nur oberflächlich einsteigt, wird schwerlich eine dauerhaft haltbare Lösung erarbeiten können. Das Erarbeiten der zugrunde liegenden Interessen mit den Beteiligten ist in allen Mediationsrichtungen als wichtiger methodischer und inhaltlicher Baustein in der Mediation genutzt. Die jeweiligen Unterschiede in der Mediationspraxis bestehen darin, inwieweit vom Mediator auf die Emotionen eingegangen wird.
Die theoretische Basis dazu wurde erstmalig im Harvard-Konzept klar formuliert. Demnach gibt es keinen Ausgleich zwischen Positionen, doch ist sehr wohl ein Ausgleich von Interessen möglich.
Rz. 29
Was genau sind nun Interessen?
Die Benennung als "Interesse" kommt ursprünglich daher, dass diese Mediationsphase im amerikanischen Sprachraum mit "interest" bezeichnet wurde: interest = Bedeutung/Belang. Es geht also darum, für und mit den Beteiligten herauszufinden, was ihnen dieses oder jenes Thema bedeutet, was sie mit ihrer Haltung zum Punkt X verbindet.
Interessen im weitesten Sinne können sein: Bedürfnisse, notwendige Rücksichtnahme auf andere Beteiligte oder von der Angelegenheit betroffene Außenstehende, Vorlieben, menschliche Grundbedürfnisse wie z.B. Erfüllung des persönlichen Sicherheitsbedürfnisses, sei es hinsichtlich materieller oder beruflicher Sicherheit, Sorgen und Ängste, tatsächliche oder empfundene Bedrohungen, der Wunsch nach Anerkennung, Motivationen, Wünsche unterschiedlicher Art, Hoffnung und Ähnliches. Sowie es nahezu immer zu den Positionen mehrere vordergründige und auch hintergründige Bedürfnisse und Interessen gibt, so gibt es aufgrund der menschlichen Individualität auch in ähnlich gelagerten Konflikten oder Planungssituationen ganz unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse der Beteiligten. Nicht ungewöhnlich ist jedoch, dass es bei sehr unterschiedlichen Positionen ähnlich gelagerte oder gemeinsame Interessen gibt.
Rz. 30
Je aufgefächerter eine Themensammlung ist, desto klarer muss der Mediator mit den Beteiligten an deren Interessen arbeiten und diese möglichst nachvollziehbar visualisieren (so denn in dieser Mediation mit Visualisierungstechniken gearbeitet wird – doch das ist unterschiedlich je nach Mediationsschule und persönlichem Arbeitsstil des Mediators, vgl. Rdn 23).
Wie in der vorhergehenden Phase der Mediation – Themensammlung – wird auch in dieser Phase – Interessenerarbeitung – zunächst mit jedem einzelnen Beteiligten gearbeitet. Auch hier erfolgt dann in der Regel nach einer kleinen Eingewöhnungsphase, worum es bei den Interessen geht, entweder ein wechselseitiges Nennen oder ein turnusmäßiges Nennen durch alle Beteiligten. In einem weiteren Verfahrensschritt in dieser Phase wird geschaut, ob und inwieweit die Interessen der Beteiligten sich wechselseitig bedingen, ähnlich gelagert sind oder einander komplett ausschließen.
Rz. 31
In der Mediation in der Unternehmensnachfolge bietet die Arbeit an den unterschiedlichen Interessen der Beteiligten einen hervorragenden Rahmen, die verschiedenen Ebenen – Unternehmenssystem, Eigentumssituation, Familiensystem – herauszuarbeiten und damit die Klarheit der Beteiligten über ihre Beweggründe zu erhöhen. Speziell in Familienunternehmen herrscht nicht selten ein fruchtbarer Nährboden für Konflikte, die gesteigert in der Situation der Unternehmensnachfolge zu Tage treten.
Systemtheoretisch lässt sich die Verbindung von Unternehmen und Familie als die Kopplung zweier unterschiedlicher Sozialsysteme verstehen, die komplett unterschiedlichen Logiken folgen. So messen Familien und Unternehmen in unterschiedlichen "Währungen": So ist z.B. im System Familie die Währung Liebe, Bindung, Treue und Loyalität, wohingegen im System Unternehmen die Währung Arbeitskraft und Karriere darstellt. Die Arbeit an den Interessen bietet den Beteiligten die Möglichkeit, über die tieferliegenden Motivationen für ihre Handlungen und Reaktionen nachzudenken. Wer seine eigenen Interessen kennt, ist eher in der Lage, sich auf ein konstruktives Gespräch mit den anderen Beteiligten einzulassen. Eine der Überlegung ist z.B.: "Was will der Übernehmer/Übergeber?"
Eine andere Überlegung könnte sein: "Ist das ein Beweggrund des Vaters oder ein Beweggrund des Unternehmensinhabers? Hat man sich als Sohn/Tochter oder als Gesellschafter nicht ernst genommen gefühlt?" Diese unterschiedlichen Schichten, die gerade in der Nachfolgesituation häufig zu einem scheinbar unentwirrbaren Komplex verwoben sind, lassen sich mithilfe von Mediation durchaus in einzelne Handlungsstränge und Lösungsalternativen auseinanderzerren und Schritt für Schritt einer dieser speziellen Unternehmensnachfolge genehmen Lösung zuführen.
In einigen Mediationsfällen kommt es vor, dass der Aha-Effekt "Ach so, darum ging es Ihnen also" dazu führt, dass ein bestehender Konflikt bereits an di...