Rz. 135
Die Bindung des Berufungsgerichts an die vom Vordergericht festgestellten Tatsachen entfällt, soweit konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 Hs. 2 ZPO).
Rz. 136
Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinne ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte wollte der Gesetzgeber dagegen ausschließen.
Rz. 137
Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen können sich insbesondere aus Verfahrensfehlern ergeben, die dem erstinstanzlichen Gericht bei der Feststellung des Sachverhalts unterlaufen sind. Beispielhaft seien insoweit für den Unfallhaftpflichtprozess benannt: Übergehen von Tatsachenvortrag oder Verwertung nicht vorgetragener Tatsachen, überspannte Anforderungen an die Substantiierung des Vorbringens, Unterlassen eines Hinweises auf ungenügendes Vorbringen, unzureichende Ermittlung ausländischen Rechts, Anwendung eines fehlerhaften Beweismaßes (§ 286 ZPO statt § 287 ZPO), unzureichende, weil unvollständige, in sich widersprüchliche oder gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßende Beweiswürdigung, unzulässige Ablehnung eines Antrags auf Vernehmung eines Zeugen oder auf Einholung eines Sachverständigengutachtens, Unterlassen der erneuten Anhörung eines Zeugen trotz von der Vorinstanz abweichender Würdigung von dessen Aussage (s.u. Rdn 144), Ablehnung eines Antrags auf Anhörung des Sachverständigen, Lückenhaftigkeit oder Widersprüchlichkeit eines verwerteten Gutachtens oder fehlende Auseinandersetzung mit den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen widersprechenden Ausführungen eines Privatgutachtens. Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit von Zeugen oder die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben oder gegen die Sachkunde oder Zuverlässigkeit von Sachverständigen sind indes nur dann beachtlich, wenn sie konkret begründbar sind.
Rz. 138
Es ist – im Rahmen einer zulässigen Berufung – ferner Aufgabe des Berufungsgerichts, das Urteil der Vorinstanz auch ohne dahingehende Rüge (§ 529 Abs. 2 S. 1 ZPO) auf konkrete Anhaltspunkte für Zweifel hinsichtlich der Richtigkeit und Vollständigkeit der getroffenen Tatsachenfeststellungen zu prüfen und etwaige Fehler zu beseitigen. Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen hat das Berufungsgericht selbst dann nachzugehen, wenn es sie unabhängig vom Parteivortrag aufgrund lediglich gerichtskundiger Tatsachen gewonnen hat.
Rz. 139
Auch verfahrensfehlerfrei getroffene Tatsachenfeststellungen sind für das Berufungsgericht nicht bindend, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Feststellungen unvollständig oder unrichtig sind. Zweifelhaft können die Feststellungen des erstinstanzlichen Gerichts insbesondere durch neue Angriffs- und Verteidigungsmittel werden, soweit sie in der Berufungsinstanz zu berücksichtigen sind (siehe dazu unten Rdn 146 ff.). Konkrete Anhaltspunkte in diesem Sinne sind alle objektivierbaren rechtlichen oder tatsächlichen Einwände gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Derartige konkrete Anhaltspunkte können sich unter anderem aus dem Vortrag der Parteien, vorbehaltlich der Anwendung von Präklusionsvorschriften auch aus dem Vortrag der Parteien in der Berufungsinstanz ergeben. Zweifel i.S.v. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO liegen schon dann vor, wenn aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, sich also deren Unrichtigkeit herausstellt. Bei der Berufungsinstanz handelt es sich daher um eine zweite – wenn auch eingeschränkte – Tatsacheninstanz, deren Aufgabe in der Gewinnung einer fehlerfreien und überzeugenden und damit richtigen Entscheidung des Einzelfalls besteht. Daher hat das Berufungsgericht die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Voraussetzungen des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO seien insofern gegeben, als konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen der ersten Instanz begründeten, weshalb die Beweisaufnahme in der Berufungsinstanz fortzusetzen sei, ist einer revisionsgerichtlichen Überprüfung entzogen.
Rz. 140
Auch eine vom Erstgericht vorgenommene Schätzung (§ 287 ZPO) kann das Berufungsgericht nach alledem – auf Grundlage der berücksichtigungsfähigen Tatsachen (§ 529 Abs. 1 ZPO) – ohne Bindung an die Ermessensausübung des erstinstanzlichen Gerichts selbstständig nach allen Richtun...