Dr. iur. Berthold Hilderink
Rz. 42
Die Kündigung unter Abwesenden ist dann zugegangen, wenn sie so in den Machtbereich des Kündigungsempfängers gelangt ist, dass bei Annahme gewöhnlicher Verhältnisse mit der Kenntnisnahme zu rechnen ist (BAG v. 11.11.1992 – 2 AZR 328/92, NJW 1993, 1093 = NZA 1993, 259; BGH v. 7.6.1995, NJW 1995, 2217).
Rz. 43
Der Zugang einer schriftlichen Willenserklärung hängt somit von zwei Voraussetzungen ab:
Die Erklärung muss in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers oder eines empfangsberechtigten Dritten gelangt sein und der Empfänger muss unter gewöhnlichen Umständen Kenntnis nehmen können.
Rz. 44
Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG (vgl. BAG v. 22.8.2019 – 2 AZR 111/19, Rn 12; BAG v. 25.4.2018 – 2 AZR 493/17, Rn 15, BAGE 162, 317; BAG v. 26.3.2015 – 2 AZR 483/14, Rn 37) und des BGH (vgl. BGH v.14.2.2019 – IX ZR 181/17, Rn 11; BGH v. 5.12.2007 – XII ZR 148/05, Rn 9) geht eine verkörperte Willenserklärung unter Abwesenden i.S.v. § 130 Abs. 1 S. 1 BGB zu, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt ist und für diesen unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von ihr Kenntnis zu nehmen. Zum Bereich des Empfängers gehören von ihm vorgehaltene Empfangseinrichtungen wie ein Briefkasten (BAG v. 22.8.2019 – 2 AZR 111/19, Rn 12). Der am Abend oder während der Nacht eingeworfene Brief geht daher erst am nächsten Morgen zu (BAG v. 8.12.1983 – 2 AZR 337/82, DB 1984, 1202 = NJW 1984, 1651). Ob die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand, ist nach den "gewöhnlichen Verhältnissen" und den "Gepflogenheiten des Verkehrs" zu beurteilen (BAG v. 22.8.2019 – 2 AZR 111/19, Rn 12). Der Einwurf in einen Briefkasten bewirkt den Zugang, sobald nach der Verkehrsanschauung mit der nächsten Entnahme zu rechnen ist (BAG v. 22.8.2019 – 2 AZR 111/19, Rn 12). Dabei ist nicht auf die individuellen Verhältnisse des Empfängers abzustellen, vielmehr ist im Interesse der Rechtssicherheit eine generalisierende Betrachtung geboten (BAG v. 22.8.2019 – 2 AZR 111/19, Rn 12). Falls der Empfänger unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit der Kenntnisnahme hatte, ist es ohne Belang, ob er daran durch Krankheit, zeitweilige Abwesenheit oder andere besondere Umstände einige Zeit gehindert war (BAG v. 22.8.2019 – 2 AZR 111/19, Rn 12). Er hat die Obliegenheit, die nötigen Vorkehrungen für eine tatsächliche Kenntnisnahme zu treffen (BAG v. 22.8.2019 – 2 AZR 111/19, Rn 12). Unterlässt er dies, wird der Zugang durch solche – allein in seiner Person liegenden – Gründe nicht ausgeschlossen (BAG v. 22.8.2019 – 2 AZR 111/19, Rn 12).
BAG und BGH haben bislang die Annahme einer Verkehrsanschauung, wonach bei Hausbriefkästen im Allgemeinen mit einer Leerung unmittelbar nach Abschluss der üblichen Postzustellzeiten zu rechnen sei, die allerdings stark variieren können, nicht beanstandet (vgl. BAG v. 22.3.2012 – 2 AZR 224/11, Rn 21, 35; BGH v. 21.1.2004 – XII ZR 214/00, zu II 3 der Gründe). Die allgemeinen örtlichen Postzustellungszeiten gehören nicht zu den individuellen Verhältnissen, sondern sind vielmehr dazu geeignet, die Verkehrsauffassung über die übliche Leerung des Hausbriefkastens zu beeinflussen (BAG v. 22.8.2019 – 2 AZR 111/19, Rn 15). Die Frage nach der Verkehrsanschauung kann regional unterschiedlich zu beantworten sein und die Antwort kann sich im Lauf der Jahre ändern (BAG v. 22.8.2019 – 2 AZR 111/19, Rn 16; BGH v. 20.11.2008 – IX ZR 180/07, Rn 28). Die Fortdauer des Bestehens oder Nichtbestehens einer Verkehrsanschauung wird nicht vermutet (BAG v. 22.8.2019 – 2 AZR 111/19, Rn 16; BGH v. 1.10.1992 – V ZR 36/91, zu III der Gründe).
Rz. 45
Wird eine Kündigung an einen Empfangsboten übergeben, ist umstritten, ob sie dem Adressaten bereits mit der Übermittlung an den Empfangsboten zugeht oder erst dann, wenn mit der Weitergabe der Erklärung durch den Empfangsboten an den Adressaten zu rechnen ist (vgl. zum Meinungsstreit Joussen, Jura 2003, 577, 579 f.; Herbert, NZA 1994, 391, 392). Vorzugswürdig ist die letztgenannte Ansicht, die der Rechtsprechung des BAG entspricht (vgl. BAG v. 24.5.2018 – 2 AZR 72/18, Rn 25; BAG v. 9.6.2011 – 6 AZR 687/09, NZA 2011, 847; vgl. auch BGH v. 17.3.1994, NJW 1994, 2613; BGH v. 15.3.1989, NJW-RR 1989, 757). Wird eine Erklärung ggü. einem Empfangsboten abgegeben, kommt es anders als bei einer Empfangsvollmacht allein auf die Person des Adressaten an. Erst wenn dieser unter Zugrundelegung gewöhnlicher Übermittlungsverhältnisse die (theoretische) Möglichkeit der Kenntnisnahme hat, ist die an seinen Empfangsboten abgegebene Erklärung zugegangen (BAG v. 9.6.2011 – 6 AZR 687/09, NZA 2011, 847, 849). Denn der Empfangsbote hat lediglich die Funktion einer personifizierten Empfangseinrichtung des Adressaten (BAG v. 24.5.2018 – 2 AZR 72/18, Rn 25; BGH v. 17.3.1994 – X ZR 80/92, NJW 1994, 2613; BGH v. 15.3.1989, NJW-RR 1989, 757, 758). Er soll die an den Adressaten gerichtete Erklärung entgegennehmen und an diesen weiterleiten, als...