Dr. iur. Berthold Hilderink
Rz. 240
Gem. § 622 Abs. 4 S. 1 BGB können durch Tarifvertrag Regelungen vereinbart werden, die von § 622 Abs. 1–3 BGB abweichen. Die Tarifvertragsparteien können sowohl die Grundkündigungsfrist als auch die verlängerten Kündigungsfristen für länger beschäftigte Arbeitnehmer und die Kündigungstermine abändern. Dies kann auch zuungunsten der Arbeitnehmer geschehen. Insoweit kann auch die erforderliche Beschäftigungszeit für längere Kündigungsfristen abweichend von § 622 Abs. 2 BGB geregelt werden (BAG v. 14.2.1996, AP TVG, § 1 Tarifverträge: Textilindustrie Nr. 21). Für die Abkürzung der Kündigungsfrist besteht keine Untergrenze. Die Kündigungsfristen für den Arbeitnehmer dürfen nur nicht länger sein als die Kündigungsfristen für die Kündigung durch den Arbeitgeber (§ 622 Abs. 6 BGB).
Rz. 241
Kontrovers diskutiert wird im Zusammenhang mit § 622 Abs. 4 S. 1 BGB, ob bei den tarifvertraglichen Regelungen in Hinblick auf Kündigungsfristen zwischen Arbeitern und Angestellten differenziert werden darf.
Rz. 242
Mit der Vereinbarung von Kündigungsfristen in Tarifverträgen machen die Tarifvertragsparteien von der ihnen in Art. 9 Abs. 3 GG gewährten Regelungskompetenz Gebrauch. I.R.d. Tarifautonomie sollen sie wegen ihrer besonderen Sachkenntnis vom Gesetz abweichende Regelungen treffen können, die den jeweiligen Anforderungen ihrer Branche entsprechen (BAG v. 21.3.1991, AP BGB § 622, Nr. 31; BAG v. 14.2.1996, AP TVG § 1 Tarifverträge: Textilindustrie Nr. 21; ErfK/Müller-Glöge, § 622 BGB Rn 28). Nach Ansicht des BAG rechtfertigt dies unter Umständen auch unterschiedliche Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte. Es sei ein Unterschied, ob Tarifvertragsparteien nur für die Arbeitnehmer einer bestimmten Branche unterschiedliche Regelungen vereinbarten oder der Gesetzgeber solche Regelungen für die Gesamtheit aller Arbeiter und Angestellten treffe (BAG v. 16.9.1993 – 2 AZR 697/92, NZA 1994, 221). Erforderlich sei dabei stets, dass die Tarifvertragsparteien eine eigenständige Regelung und nicht nur die verfassungswidrige frühere gesetzliche Regelung übernommen hätten.
Rz. 243
Die Rspr. unterscheidet vor diesem Hintergrund zwischen
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neutralen (deklaratorischen) Klauseln und |
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eigenständigen (konstitutiven) Klauseln. |
Rz. 244
Ob die Tarifvertragsparteien eine deklaratorische oder eine konstitutive Klausel vereinbart haben, ist durch Auslegung zu ermitteln.
Rz. 245
Eine neutrale (deklaratorische) Klausel erschöpft sich in der Übernahme der gesetzlichen Regelung. Sie teilt daher deren Schicksal: Wenn das Gesetz aufgehoben oder geändert wird, gilt auch die Tarifbestimmung nicht mehr bzw. nur noch in geänderter Form. Wenn also die Tarifpartner bei einer Kündigungsfristenregelung in nichtverfassungskonformer Weise von der in § 622 BGB enthaltenen Tariföffnungsklausel Gebrauch gemacht haben, ist die dadurch entstandene Lücke durch Anwendung der tarifdispositiven Gesetzesnorm zu schließen, d.h. es gelten die gesetzlichen Kündigungsfristen (BAG v. 10.3.1994 – 2 AZR 323/84 (C), BB 1994, 1355 = DB 1994, 1425). Das BAG hat darauf hingewiesen, dass sich die Rspr. zu den bei Inkrafttreten des neuen § 622 BGB geltenden Tarifverträgen auch nicht ohne Weiteres auf Tarifverträge erstrecken lässt, die nach diesem Zeitpunkt abgeschlossen wurden und werden (BAG v. 10.3.1994 – 2 AZR 605/93, DB 1994, 1933).
Rz. 246
Liegt eine eigenständige (konstitutive) Klausel vor, ist diese an Art. 3 Abs. 1 GG zu messen, d.h. es ist zu prüfen, ob die Differenzierung zwischen den Arbeitern und Angestellten sachlich gerechtfertigt ist (BAG v. 21.3.1991 – 2 AZR 296/87 (B), BB 1991, 1785 = DB 1991, 1884). In diesem Zusammenhang hat das BAG auf das Flexibilitätsbedürfnis in der Verwaltung abgestellt (so BAG v. 4.3.1993 – 2 AZR 355/92, DB 1993, 1578 = NZA 1993, 995). Dies soll dann gelten, wenn die Arbeiter auch angesichts neuer Fertigungsverfahren, z.B. Einsatz elektronischer Technologien oder just-in-time-Fertigung, noch überwiegend in der Produktion und die Angestellten im Verwaltungsbereich tätig sind (BAG v. 10.3.1994 – 2 AZR 605/93, BB 1994, 1422 = NZA 1994, 1045). Es gehört danach zur koalitionsmäßigen Betätigung (Art. 9 Abs. 3 GG) der Tarifvertragsparteien, den Umfang der von ihnen repräsentierten Branche selbstständig abzustecken: ein Flexibilitätsbedürfnis muss nur überwiegend in der Branche erforderlich sein. Kommt als Differenzierungsgrund u.a. die personalwirtschaftliche Flexibilität im produktiven Bereich in Betracht, ist zu klären, wie hoch in der Produktion bzw. im Verwaltungsbereich jeweils prozentual der Anteil der beschäftigten Arbeiter und der Anteil der Angestellten ist und ob dieses Verhältnis im Fall eines Tarifvertrages im Geltungsbereich verschiedener Industriezweige (Unterbranchen) im Wesentlichen einheitlich ist (BAG v. 16.9.1993 – 2 AZR 697/92, NJW 1994, 1302 = NZA 1994, 221). Auch branchenspezifische Besonderheiten im Handwerk können nach Ansicht des BAG erheblich kürzere Kündigungsfristen für Arbeiter als für Angestellte rechtfertigen (BAG ...