Dr. iur. Berthold Hilderink
Rz. 199
Mit der außerordentlichen Kündigung wird das Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung der vertraglich vereinbarten oder der gesetzlichen Kündigungsfrist beendet. Die außerordentliche Kündigung ist daher i.d.R. eine fristlose Kündigung mit sofortiger Wirkung. Für eine wirksame außerordentliche Kündigung ist gem. § 626 BGB ein "wichtiger Grund" erforderlich. Das Gesetz kennt keine "absoluten" Kündigungsgründe (BAG v. 10.6.2010 – 2 AZR 541/09, NZA 2010, 1227, 1229). Vielmehr ist jeder Einzelfall gesondert zu beurteilen. Eine außerordentliche Kündigung kann nur wirksam ausgesprochen werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsparteien die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der anwendbaren Kündigungsfrist oder – bei befristeten Arbeitsverhältnissen – bis zum Zeitpunkt der vereinbarten Beendigung nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", und damit typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist (BAG v. 27.6.2019 – 2 AZR 50/19, Rn 12). Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der (fiktiven) Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht (BAG v. 27.6.2019 – 2 AZR 50/19, Rn 12; BAG v. 13.12.2018 – 2 AZR 370/18, Rn 15).
Rz. 200
Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ende der Frist für eine ordentliche Kündigung zumutbar war oder nicht, nicht abschließend festlegen (BAG v. 23.8.2018 – 2 AZR 235/18, Rn 40). Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt somit nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind (BAG v. 23.8.2018 – 2 AZR 235/18, Rn 40; 24.3.2011 – 2 AZR 282/10, NZA 2011, 1029; BAG v. 10.6.2010, NZA 2010, 1227; BAG v. 19.4.2007, NZA-RR 2007, 571, 575). Dieser Aspekt hat durch die Regelung des § 314 Abs. 2 BGB i.V.m. § 323 Abs. 2 BGB eine gesetzgeberische Bestätigung erfahren (BAG v. 24.3.2011 – 2 AZR 282/10, NZA 2011, 1029, 1031). Die außerordentliche Kündigung scheidet aus, wenn es ein "schonenderes" Gestaltungsmittel gibt. Als mildere Mittel kommen insb. eine Abmahnung und eine ordentliche Kündigung in Betracht. Sie sind alternative Gestaltungsmittel, wenn bereits sie geeignet sind, den mit der außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck – nicht die Sanktion des pflichtwidrigen Verhaltens, sondern die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen – zu erreichen (BAG v. 23.8.2018 – 2 AZR 235/18, Rn 40; BAG v. 29.6.2017 – 2 AZR 302/16, Rn 27; BAG v. 24.3.2011 – 2 AZR 282/10, NZA 2011, 1029, 1030; BAG v. 10.6.2010, NZA 2010, 1227, 1231). Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grds. davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann (BAG v. 24.3.2011 – 2 AZR 282/10, NZA 2011, 1029, 1030; BAG v. 10.6.2010, NZA 2010, 1227, 1231; Schlachter, NZA 2005, 433, 436). Ordentliche und außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Diese dient gleichzeitig der Objektivierung der negativen Prognose (BAG v. 24.3.2011 – 2 AZR 282/10, NZA 2011, 1029, 1031; BAG v. 10.6.2010, NZA 2010, 1227, 1231). Eine Abmahnung ist im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz daher lediglich nur dann entbehrlich, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft selbst nach einer Abmahnung nicht zu erwarten wäre oder der Arbeitnehmer eine so schwere Pflichtverletzung begangen hat, dass eine Hinnahme durch den Arbeitgeber offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (BAG v. 24.3.2011 – 2 AZR 282/10, NZA 2011, 1029, 1031; BAG v. 10.6.2010, NZA 2010, 1227, 1231).
Rz. 201
Die Regeln der außerordentlichen Kündigung finden aber auch dann Anwendung, wenn der Arbeitgeber eine außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist erklärt. Eine außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist kommt vor allem dann in Betracht, wenn das Arbeitsverhältnis aufgrund tarifvertraglicher Regelung oder Vereinbarung im Arbeitsvertrag ordentlich nicht gekündigt werden kann und dies dazu führt, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer andernfalls noch für Jahre vergüten müsste, ohne dass dem eine ...