Rz. 144
Nach § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG sind im Rahmen der Sozialauswahl die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers zu berücksichtigen. Keinem dieser Kriterien kommt ein genereller und absoluter Vorrang zu. Es bestehen bzgl. der Gewichtung keine abstrakten Vorgaben. Auf eine Heranziehung zusätzlicher Faktoren und Kriterien muss verzichtet werden. Es kommt höchstens eine Ergänzung im Rahmen der Gewichtung der Grunddaten in Betracht, soweit die ergänzenden Faktoren einen unmittelbaren Bezug zu den Grunddaten haben. Bei der Beurteilung der Sozialauswahl sind nur die sozialen Daten zu berücksichtigen, die bereits im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung vorlagen. Später eintretende Umstände (z.B. Erhöhung der Zahl der Unterhaltspflichten) bewirken nicht die nachträgliche Sozialwidrigkeit einer zunächst sozial gerechtfertigten betriebsbedingten Kündigung. Das Gesetz räumt dem Arbeitgeber einen Wertungsspielraum ein ("… nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt …"). Die Auswahlentscheidung muss nur vertretbar sein und nicht unbedingt der Entscheidung entsprechen, die das Gericht getroffen hätte, wenn es eigenverantwortlich soziale Erwägungen hätte anstellen müssen. Nur deutlich schutzwürdigere Arbeitnehmer können mit Erfolg die Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl rügen. Im Übrigen kann auch die unrichtige oder unvollständige Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte zu einer zutreffenden Auswahlentscheidung führen, wenn sich der Fehler nicht auswirkt. Es kommt nicht auf die Begründung, sondern auf das Ergebnis der Auswahlentscheidung an. Unbillige Härten im Einzelfall können neben den Grunddaten nicht (mehr) beachtet werden. Tut der Arbeitgeber dies dennoch, trägt er im Prozess ein hohes Risiko.
In der Praxis erfolgt die Gewichtung der Sozialkriterien häufig durch Punktetabellen. Das BAG hat in der Entscheidung vom 6.11.2008 folgendes Punkteschema für zulässig erachtet:
Kriterium |
|
Punkte |
1. Lebensalter |
für jedes vollendete Jahr nach dem 18. Lebensjahr |
1 Punkt je Lebensjahr |
2. Dauer der Betriebszugehörigkeit |
für jedes Beschäftigungsjahr |
1,5 Punkte |
3. Unterhaltspflichten |
Ehegatte/eingetragener Lebenspartner |
5 Punkte |
|
je Kind |
7 Punkte |
4. Schwerbehinderte |
|
11 Punkte |
oder Gleichgestellte |
|
9 Punkte |
Rz. 145
Der Betriebszugehörigkeit kommt bei der sozialen Auswahl in der betrieblichen und unterinstanzlichen arbeitsgerichtlichen Praxis regelmäßig die ausschlaggebende Bedeutung zu. Bei der Berechnung der Dauer der Betriebszugehörigkeit ist nicht nur die gegenwärtige Beschäftigung zu berücksichtigen, sondern auch ein vorausgegangenes Arbeitsverhältnis bei demselben Arbeitgeber, das auch zu einer Anrechnung auf die Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG führen würde (vgl. Rdn 46 ff.). Eine weitergehende Berücksichtigung früherer Beschäftigungszeiten oder von Zeiten der Beschäftigung bei anderen – z.B. konzernangehörigen – Unternehmen ist nur möglich, wenn dies vertraglich vereinbart ist. Die vertragliche Anerkennung von Vordienstzeiten aus einem früheren Arbeitsverhältnis mit einem anderen Arbeitgeber muss grundsätzlich auch für die Sozialauswahl gelten. Vorbeschäftigungszeiten sind auch dann zu berücksichtigen, wenn der Arbeitgeber sich im Rahmen eines Prozessvergleiches verpflichtet hat, diese Zeiten anzurechnen.
Rz. 146
Die Schwierigkeiten, die mit der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz verbunden sind, sind jüngeren Arbeitnehmern regelmäßig eher zuzumuten als einem älteren, dessen Chancen auf dem Arbeitsmarkt häufig geringer sind. Andererseits sind jüngere Arbeitnehmer zum Unterhalt ihrer Familie häufig stärker auf ein Erwerbseinkommen angewiesen als ältere Arbeitnehmer. Das Lebensalter bildet insofern eine ambivalente Größe. Die Berücksichtigung des Lebensalters stellt zwar eine an das Alter anknüpfende unterschiedliche Behandlung i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG dar; sie ist jedoch regelmäßig nach § 10 S. 1 und 2 AGG gerechtfertigt, weil sie den typischerweise schlechteren Chancen von älteren Arbeitnehmern auf dem Arbeitsmarkt Rechnung trägt. Arbeitnehmer, die bereits Regelaltersrente beziehen können, sind wiederum schutzunwürdiger als Arbeitnehmer, die noch keine Altersrente beanspruchen können. Denn den regelaltersrentenberechtigten Arbeitnehmern steht ein dauerhaftes Ersatzeinkommen zur Verfügung. Dasselbe soll gelten, wenn der Arbeitnehmer rentennah ist, weil er eine abschlagsfreie Rente oder die Regelaltersrente spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem in Aussicht genommenen Ende des Arbeitsverhältnisses beziehen kann.
Rz. 147
Das Ausmaß der Unterhaltspflichten stellt ein wichtiges Indiz für die soziale Schutzbedürftigkeit eines Arbeitnehmers dar. Es sind nur die gesetzlichen familienrechtlichen Unterhaltspflichten zu berücksichtigen. Hinsichtlich der Unterhaltspflicht kommt es nicht auf die numerische Anzahl der unterhaltspflichtigen Personen an (vgl. §§ 1360 ff....