Rz. 202
Das Betreuungsrecht unterliegt wie kaum ein anderes Rechtsgebiet der Ausgestaltung durch die Rechtsprechung und dem tatsächlichen Zuwachs der Verfahren bei den Betreuungsgerichten. Derzeit stehen ca. 1,5 Millionen Menschen unter Betreuung, Tendenz steigend. Der Gesetzgeber hat den Handlungsbedarf erkannt. Das gesamte Betreuungsrecht steht wegen seiner Dynamik und extremen Praxisrelevanz vor ständigen Änderungen und Ergänzungen. Durch die zum 1.7.2005 und 1.9.2009 eingeführten Gesetzesänderungen und obergerichtliche Rechtsprechung wurden Kernbereiche des Betreuungsrechts, insbesondere die Vergütungsregelungen, neu strukturiert. Zum 1.1.2013 wurden Korrekturen des Betreuungsrechts durch den Gesetzgeber vorgenommen. Die §§ 278, 283, 319 und 326 FamFG wurden jeweils um eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für die Anwendung unmittelbaren Zwangs und der Grundrechtseingriffe im Rahmen der Unverletzlichkeit der Wohnung ergänzt. Außerdem wurde das Gesetz zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme ebenso verabschiedet wie auch die Neuregelung des Kostenrechts, welche seit dem 1.8.2013 im Rahmen des 2. KostRMoG zu berücksichtigen ist. Des Weiteren wurden zum 1.7.2014 Änderungen im FamFG und im BtBG vorgenommen, um die Funktion der Betreuungsbehörden zu stärken.
Rz. 203
Darüber hinaus trat zum 1.1.2020 die dritte Stufe des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) in Kraft. Es soll auch dazu beitragen, die selbstbestimmt Teilhabe im Sinne der UN-BRK zu gewährleisten, weshalb die Eingliederungshilfe von der Sozialhilfe in das SGB IX überführt. Dies hat Konsequenzen für das Betreuungsrecht. Der Zweck des BTHG liegt darin, Behinderten an der Gesellschaft eine volle Teilhabemöglichkeit einzuräumen und die dadurch verbundene Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit zu fördern. Die Betreuungsgerichte werden deshalb vor allem den Grundsatz der Erforderlichkeit einer Betreuungseinrichtung schwerpunktmäßig zu prüfen haben: Wenn Betroffene bisher ohne rechtliche Betreuer ihre Angelegenheiten regeln konnten, ist künftig zu klären, ob die nach dem BTHG notwendigen Schritte außerhalb einer rechtlichen Betreuung erfolgen können. Hierzu müssen nicht unbedingt rechtliche Betreuer installiert werden, sondern Sozialämter (§ 17 SGB I), Kostenträger, Beratungsstellen, Kommunen oder die neu geschaffenen unabhängigen Teilhabeberatungsstellen können hierzu Unterstützung leisten. Diese Unterstützung kann auch den Betreuern zugutekommen.
Rz. 204
Zum 1.1.2023 erfolgte die große Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts. Die Rechtsbereiche wurden neu geregelt, modernisiert und auch neu strukturiert. Primär soll die Unterstützung des Betreuten bei der Besorgung seiner Angelegenheiten durch eigenes, selbstbestimmtes Handeln gewährleistet werden. Seine Wünsche sind vorrangig zu beachten. Auch die Wahrnehmung gerichtlicher Aufsichtstätigkeiten ist neu geregelt. Für den erbrechtlichen Bereich ist für die Praxis die Voraussetzung für die Bestellung eines Kontrollbetreuers (§§ 1815, 1820 BGB) zentral. § 1851 BGB fasst Genehmigungspflichten für erbrechtliche Rechtsgeschäfte zusammen. Neu eingeführt ist auch ein Notvertretungsrecht für Ehegatten im Gesundheitsbereich für die Dauer von sechs Monaten (siehe dazu näher § 1 Rdn 193 ff.); nach Fristablauf ist die Installation eines Betreuers vorgesehen. Neben der neuen Zählung der Paragraphen beinhaltet das zum 1.1.2023 in Kraft getretene Gesetz auch inhaltlich eine neue Konzeption, da die betreuungsrechtlichen Vorschriften jetzt weitgehend von den vormundschaftsgerichtlichen abgekoppelt sind.
Rz. 205
Ob in weiteren Gesetzgebungsverfahren insbesondere die Schaffung einer größeren Kontrolldichte durch die Betreuungsgerichte, die Ausweitung der Wirkungskreise von Vorsorgevollmachten in Gesetzesform gegossen wird, erscheint fraglich. Insbesondere das Zusammenspiel zwischen Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung und Betreuungsverfügung zur Schnittstelle des Betreuungsrechts steht immer wieder in der tagespolitischen Diskussion.
Praxistipp
Als Alternative für die Betreuungstätigkeit sollte daher verstärkt von Vorsorgevollmachten und Betreuungsverfügungen Gebrauch gemacht werden; dort können die zur Betreuung Vorgesehenen als Bevollmächtigte eingesetzt werden, um gerichtlich bestellte Betreuer zu umgehen. Mit geregelt werden sollte auch die Vergütung des Bevollmächtigten, da dieser Aspekt der Privatautonomie und Vertragsfreiheit unterliegt.