Dr. iur. Sebastian Müller
Rz. 44
Damit der Anwalt in der Lage ist, die Rechtslage zu überprüfen und dem Mandanten das richtige rechtliche Vorgehen zu ermöglichen, hat er sich alle hierzu notwendigen Rechtskenntnisse anzueignen. Dabei stellt die Rechtsprechung ziemlich hohe Anforderungen an die Tätigkeit des Rechtsanwalts; die in den letzten Jahren zur Anwaltshaftung veröffentlichten Urteile zeigen, dass die Haftungsgefahr wesentlich größer ist als vermutet. Dies trifft insbesondere auf den erbrechtlichen Bereich zu.
Rz. 45
Nach Ansicht des OLG Hamm wird beispielsweise eine lückenlose Gesetzeskenntnis des BGB bis ins Detail gefordert. Das bedeutet, dass das 5. Buch des BGB mit seinen über 400 Vorschriften als bekannt vorausgesetzt wird. Die geforderte Kenntnis bezieht sich aber selbstverständlich nicht lediglich auf den Wortlaut des Gesetzes, sondern vielmehr auch auf den aktuellen Meinungsstand in Rechtsprechung und Literatur. Im Hinblick auf die nicht immer eindeutige Formulierung des Gesetzestextes ergeben sich so zahlreiche Fallstricke, die das Erbrecht zu einem äußerst haftungsträchtigen Betätigungsfeld werden lassen. Hinzu kommt, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Fehlentscheidung im erbrechtlichen Bereich zumeist sehr gravierend sind, man denke beispielsweise nur an die Fragen der Ausschlagungsmöglichkeit eines pflichtteilsberechtigten Erben im Rahmen des § 2306 BGB.
Rz. 46
Nach allgemeiner Ansicht hat sich der Rechtsanwalt die notwendigen Rechtskenntnisse anzueignen. Seine Fortbildungspflicht ist dementsprechend auch in § 43a Abs. 6 BRAO gesetzlich fixiert.
Ferner hat der Anwalt die Rechtslage im Einzelnen umfassend zu prüfen. "Umfassend" bedeutet, dass neben den einschlägigen Vorschriften und Entscheidungen zum deutschen Recht ggf. auch die Gesetze anderer Staaten ebenso berücksichtigt werden müssen, wie die gesamte Rechtsliteratur, sowie eventuell auch andere Materialien, wie z.B. Tarifverträge, Versicherungsbedingungen etc.
Rz. 47
Hinsichtlich des deutschen Rechts ist eine lückenlose Gesetzeskenntnis absolut unabdingbar. Gerade im Erbrecht sind zahlreiche Zweifels- bzw. Auslegungsfragen durch entsprechende Vermutungsregeln gesetzlich geregelt. Das Übersehen einer solchen Vorschrift hat in jedem Fall die Haftung des Rechtsanwalts zur Folge. Soweit ausländische Gesetze internationale Gültigkeit haben, wird deren Kenntnis vom Anwalt ebenfalls gefordert, so beispielsweise hinsichtlich des UN-Kaufrechts (CISG). Die Kenntnis ausländischen Erbrechts und ähnlicher Spezialvorschriften ist im Regelfall jedoch nicht notwendig, wohl aber die Kenntnis des deutschen IPR und im Bereich des Erbrechts insbesondere die EuErbVO. Grundsätzlich wird vom Anwalt keine vertiefte Kenntnis der Steuergesetze gefordert; eine steuerliche Beratung wird von ihm regelmäßig nicht verlangt. Allerdings sollte er seinem Mandanten dann den Hinweis geben, dass die steuerliche Analyse in der Sache nicht von seinem Auftrag umfasst wird.
Rz. 48
Die Kenntnis der höchstrichterlichen Rechtsprechung wird stets vorausgesetzt. Jede höchstrichterliche Entscheidung, seit deren Veröffentlichung in einer "allgemeinen juristischen Zeitschrift" (im Entscheidungsfall war es die NJW) auch nur wenige Tage vergangen sind, muss dem Anwalt bekannt sein; dies gilt selbst dann, wenn sich der zu berücksichtigende Rechtssatz nicht aus dem veröffentlichten Leitsatz, sondern nur aus den tragenden Gründen der Entscheidung ergibt.
Rz. 49
Die Kenntnis höchstrichterlicher Entscheidungen, die lediglich in einer "Spezialzeitschrift" veröffentlicht wurden, braucht der Anwalt nach einer älteren Entscheidung des BGH nicht unbedingt zu kennen. Zu den "Spezialzeitschriften" gehören beispielsweise die Familienrechtszeitschrift (FamRZ), die Zeitschrift für die Steuer- und Erbrechtspraxis (ZErb) oder die Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge (ZEV). Ob der BGH heutzutage die Frage nicht anders entscheiden und die Kenntnis der in Spezialzeitschriften veröffentlichten Urteile als notwendig erachten würde, ist indes fraglich.
Rz. 50
Die Kenntnis wichtiger Entscheidungen von Oberlandesgerichten ist dann notwendig, wenn es sich um ein Rechtsgebiet handelt, für das in der Regel ein Oberlandesgericht als letzte Instanz entscheidet, so z.B. in Familiensachen. Ebenso hat der Anwalt die Pflicht, sich anhand der Rechtsliteratur ein Bild von der herrschenden Meinung zu machen.
Der Rechtsanwalt hat die laufenden Gesetzgebungsverfahren sowie die höchstrichterliche Rechtsprechung zu beobachten und sich abzeichnende Gesetzes- oder Rechtsprechungsänderungen innerhalb der von ihm übernommenen Mandate zu berücksichtigen bzw. zu bewerten. Nur in absoluten Ausnahmefällen kann auf die Unkenntnis von Gesetzesänderungen ein Wiedereinsetzungsantrag gestützt werden.