Dr. iur. Sebastian Müller
Rz. 122
Im Rahmen der Ausschlagung kann eine Pflichtverletzung beispielsweise darin liegen, dass der Rechtsanwalt den Mandanten nicht auf den bevorstehenden Ablauf von Ausschlagungs- oder Annahmefrist (§ 1944 BGB) hinweist.
Oftmals wird in der Praxis auch nicht erkannt, dass – mit Ausnahme der Fälle der §§ 2306, 2307 BGB und § 1371 Abs. 3 BGB – die Ausschlagung der Erbschaft auch zum Verlust des Pflichtteilsanspruchs führt. Aus diesem Grunde gilt es, vor jeder Ausschlagung exakt zu prüfen, ob dem Mandanten hierdurch nicht jeglicher Erb- und Pflichtteilsanspruch abgeschnitten wird.
Rz. 123
Es wird leicht übersehen, die Ausschlagungsmöglichkeit gemäß § 2306 Abs. 1 BGB der Miterbenstellung eines pflichtteilsberechtigten Mandanten zu prüfen, wenn im Testament ein Vermächtnis in nicht bestimmter Höhe, z.B. ein sog. Pflegevermächtnis, angeordnet ist. In einem solchen Fall muss der Anwalt sorgfältig prüfen, ob und in welcher Höhe ein derartiges Pflegevermächtnis im konkreten Fall gegeben sein könnte. Besteht die Gefahr, dass dieses Pflegevermächtnis so hoch sein kann, dass die Erfüllung des Vermächtnisses den Pflichtteil des Mandanten gefährdet, ist zu prüfen und durch den Mandanten zu entscheiden, ob von der Möglichkeit der "taktischen Ausschlagung" Gebrauch gemacht werden sollte.
Beispielsfall
Der Erblasser hat zwei Kinder, K1 und K2, zu Miterben zu je ½ eingesetzt und ein Pflegevermächtnis zugunsten des ihn pflegenden Kindes in angemessener Höhe angeordnet. Der Nachlass beläuft sich auf 80.000 EUR. Wurde der Erblasser von K2 über Jahre hinweg gepflegt und ist nicht auszuschließen, dass die Pflegeleistung mit über 60.000 EUR zu bewerten ist, so müsste dem Mandanten K1 empfohlen werden, sein Erbe gemäß § 2306 Abs. 1 BGB auszuschlagen, um sicher zu sein, dass sein Pflichtteilsanspruch in Höhe von 20.000 EUR erhalten bleibt. Versäumt K1 die Frist zur Ausschlagung oder nimmt er das Erbe vorzeitig an, so kann ihm auch eine Irrtumsanfechtung nicht weiterhelfen, da ihm lediglich der Umfang und die Höhe der Bewertung unbekannt, jedoch die Tatsache der Pflege an sich bekannt war. Ein Eigenschaftsirrtum liegt daher nicht vor.
Andererseits verletzt der Anwalt aber auch seine Beratungspflicht, wenn er den Nacherben nicht darüber aufklärt, dass er erst nach Ausschlagung der Nacherbschaft Pflichtteilsansprüche geltend machen kann.
Rz. 124
Dieselben Grundsätze gelten im Bereich des § 1948 BGB. Will der Mandant eine testamentarische Einsetzung ausschlagen, um die Erbschaft sodann als gesetzlicher Erbe anzunehmen, hat der Anwalt in jedem Fall zu prüfen, ob eine abschließende Verfügung im Sinne von § 1948 BGB vorlag. Greift hier beispielsweise eine Ersatzerbenregelung (§ 2069 BGB) oder gar eine Anwachsungsbestimmung (§ 2094 BGB) ein, verliert der Mandant durch die Ausschlagung sämtliche Ansprüche.
Rz. 125
Der Anwalt verletzt seine Beratungspflicht auch dann, wenn er den Mandanten nicht über die Möglichkeit der Ausschlagung und damit eventuell verbundene (steuerliche) Vorteile belehrt. Allerdings muss der Anwalt stets prüfen, ob die Ausschlagung das richtige Gestaltungsmittel ist. Ist dem pflichtteilsberechtigten Mandanten etwa eine Quote hinterlassen, die unter dem Pflichtteil liegt, sollte eine Ausschlagung unterbleiben. Ohne Ausschlagung steht dem Mandanten der sogenannte Pflichtteilsrestanspruch gemäß § 2305 BGB in Höhe der Differenz von Erbquote und Pflichtteilsanspruch zu. Schlüge der – im Sinne des § 2306 BGB unbeschränkte und unbeschwerte – Mandant dagegen das Erbe aus, verlöre er seinen Erbteil und behielte lediglich den ihm ohnehin zustehenden Pflichtteilsrestanspruch.