Prof. Dr. Rainer Deininger
1. Ansässigkeit nach Art. 4 Abs. 1, 2 DBA Schweiz/Deutschland
Rz. 38
Nach Art. 4 Abs. 1 DBA Schweiz/Deutschland ist eine Person grundsätzlich in demjenigen Vertragsstaat ansässig, in dem sie gemäß innerstaatlichem Recht unbeschränkt steuerpflichtig ist. Sofern eine natürliche Person nach dem jeweiligen innerstaatlichen Recht sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig und damit in beiden Vertragsstaaten ansässig ist, kommen die in Art. 4 Abs. 2 DBA Schweiz/Deutschland geregelten sog. Tie-Breaker Rules in der dargestellten hierarchischen Reihenfolge zur Anwendung, um die Ansässigkeit unter dem DBA zu bestimmen:
1. |
ständige Wohnstätte |
2. |
Mittelpunkt der Lebensinteressen |
3. |
gewöhnlicher Aufenthalt |
4. |
die Staatsangehörigkeit oder |
5. |
gemäß gegenseitigem Einvernehmen der Vertragsstaaten. |
Rz. 39
Ist eine Person sowohl nach schweizerischem als auch nach deutschem Recht unbeschränkt steuerpflichtig und muss die Ansässigkeit nach diesen Tie-Breaker Rules bestimmt werden, sind folgende Ergebnisse möglich:
▪ |
Ansässigkeit in Deutschland: Die Person unterliegt weiterhin der unbeschränkten Steuerpflicht in der Schweiz, jedoch wird eine Doppelbesteuerung in der Schweiz mittels der in Art. 24 DBA Schweiz/Deutschland vorgesehenen Freistellungs- oder Anrechnungsmethode, abhängig von der Einkunftsart, vermieden. |
▪ |
Ansässigkeit in der Schweiz: Die unbeschränkte Steuerpflicht in Deutschland bleibt in diesem Fall weiterhin bestehen, soweit dies gemäß DBA zulässig ist (vgl. auch nachfolgender Abschnitt zur überdachenden Besteuerung in Deutschland Rdn 44). Jedoch kann das deutsche Besteuerungsrecht nur nach Maßgabe des DBA ausgeübt werden. Es sind deshalb vorbehaltlich des Art. 4 Abs. 3 DBA Schweiz/Deutschland "die Beschränkungen zu beachten, die sich daraus ergeben, dass bestimmte Einkünfte und Vermögenswerte (…) allein in der Schweiz als Staat der Ansässigkeit im Sinne des Abkommens (z.B. nach Art. 21 [DBA Schweiz/Deutschland] drittstaatliche Einkünfte) und andere Einkünfte in der Bundesrepublik nur in beschränktem Umfang (z.B. Dividenden nach Art. 10 Abs. 2 [DBA Schweiz/Deutschland]) besteuert werden dürfen." |
Rz. 40
Der Begriff der ständigen Wohnstätte als erstes Unterscheidungskriterium im Falle einer doppelten Ansässigkeit wird im DBA Schweiz/Deutschland nicht näher definiert. Gemäß Bundesfinanzhof (BFH) ist der Begriff "ständige Wohnstätte" wie folgt zu verstehen:
Zitat
"Der Begriff "ständige Wohnstätte" ist ein speziell abkommensrechtlicher, da er dazu dient, bei mehrfacher Ansässigkeit i.S. des Art. 4 Abs. 1 DBA-Schweiz vorrangig dem einen oder anderen Vertragsstaat die Wahrnehmung seines Besteuerungsrechts zu belassen (…). Er ist nach allgemeinen völkerrechtlichen Regeln, d.h. anhand des Wortlauts, aus seinem Sinn und Zweck und aus seinem systematischen Zusammenhang heraus auszulegen (…). Darüber hinaus scheidet eine Heranziehung innerstaatlichen Rechts über Art. 3 Abs. 2 DBA-Schweiz auch deswegen aus, weil das deutsche Recht weder den Begriff "Wohnstätte" noch den der ständigen Wohnstätte kennt."
Rz. 41
Dieser völkerrechtlichen Auslegungssystematik folgend legte der BFH dar, dass es für das Bestehen einer ständigen Wohnstätte nicht ausreichend sei, dass man über eine Wohnung in Deutschland verfüge. Dies gelte auch dann, wenn die Umstände darauf schließen lassen, dass diese Wohnung sowohl jetzt als auch künftig beibehalten und genutzt werden würde. Vielmehr sei eine gewisse Regelmäßigkeit der Nutzung vorausgesetzt. Erst dann könne man von einem "qualifizierten Wohnsitz" ausgehen, welcher sich vom gewöhnlichen, die unbeschränkte Steuerpflicht nach Art. 4 Abs. 1 DBA Schweiz/Deutschland auslösenden Wohnsitz unterscheide.
Rz. 42
Die eher vage Definition, wonach eine "gewisse Regelmäßigkeit" vorausgesetzt wird, ist in einem weiteren Urteil von 2007 weiter präzisiert worden:
Zitat
"Eine Wohnstätte ist "ständige" i.S. des Art. 4 Abs. 3 DBA-Schweiz 1971, wenn sie aufgrund einer langfristigen Rechtsposition ständig genutzt werden kann und tatsächlich regelmäßig genutzt wird. Dabei ist einerseits weder ein ständiges Bewohnen noch ein Mindestmaß an Nutzung Voraussetzung für das Vorliegen einer ständigen Wohnstätte; ebenso muss sich dort nicht der Mittelpunkt der Lebensinteressen des betreffenden Steuerpflichtigen befinden. Andererseits reicht eine nur gelegentliche Nutzung nicht aus […]. Erforderlich ist vielmehr eine Art und Intensität der Nutzung, welche die Wohnung als eine nicht nur hin und wieder aufgesuchte, sondern in den allgemeinen Lebensrhythmus einbezogene Anlaufstelle des Steuerpflichtigen erscheinen lässt. Darin liegt die Qualifizierung der "ständigen Wohnstätte" gegenüber dem "Wohnsitz" i.S. des § 8 Abgabenordnung (AO), für dessen Begründung es ausreichen kann, dass eine Wohnung ständig zur Nutzung bereitgehalten und tatsächlich nur von Fall zu Fall genutzt wird."
Rz. 43
In welcher Häufigkeit und Intensität eine Wohnung genutzt werden muss, damit sie als "ständige Wohnstätte" qualifiziert wird, kann nicht abstrakt festgelegt werden. Entsprec...