Rz. 14

Nach der früheren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes[5] führte die in Vorb. 3 Abs. 4 VV RVG vorgesehene Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr dazu, dass sich der Anspruch des Anwalts auf die Verfahrensgebühr um den Anrechnungsbetrag verminderte, weil die Verfahrensgebühr aufgrund der Anrechnung nach Ansicht des BGH von vornherein nur in verminderter Höhe entstand. Daraus resultierte als Folgeproblem die Frage, wie die Anrechnung im Kostenfestsetzungsverfahren zu behandeln sei. Teilweise wurde vertreten,[6] dass die anzurechnende Geschäftsgebühr nur dann zu berücksichtigen sei, wenn sie tituliert bzw. unstreitig gezahlt worden war. Nach der Gegenansicht,[7] der sich auch die Mehrzahl der Senate des BGH[8] angeschlossen hatte, sollte die Anrechnung der außergerichtlichen Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr dagegen immer berücksichtigt werden.[9] Mit der Regelung in § 15a Abs. 1 RVG hat der Gesetzgeber inzwischen klargestellt, dass der Anwalt, der vor dem gerichtlichen Verfahren ­bereits außergerichtlich für den Mandanten tätig geworden ist, sowohl die Geschäfts- als auch die Verfahrensgebühr zunächst trotz der gesetzlich vorgesehenen Anrechnung völlig unabhängig voneinander in voller Höhe verdient. Die Verfahrensgebühr entsteht also – auch wenn bereits eine Geschäftsgebühr angefallen ist – nicht etwa in verminderter, sondern in voller Höhe. Der Anwalt kann jedoch im Ergebnis nur den um den Anrechnungsbetrag verminderten Gesamtbetrag der beiden Gebühren fordern. Er hat in diesem Zusammenhang ein Wahlrecht, welche der Gebühren er in welcher Höhe vom Mandanten fordert.

 

Rz. 15

 

Beispiel

Halter H beauftragt einen Anwalt, seinen Sachschaden in Höhe von 10.000 EUR zunächst außergerichtlich geltend zu machen (insgesamt durchschnittliche Angelegenheit). Nachdem der gegnerische Haftpflichtversicherer die Zahlung ablehnt, erhebt A auftragsgemäß Klage, der nach mündlicher Verhandlung stattgegeben wird.

Der Gebührenanspruch des A gegen H berechnet sich aus einem Wert von 10.000 EUR wie folgt:

 
I. Außergerichtliche Tätigkeit    
1. 1,3-Geschäftsgebühr, VV 2300   798,20 EUR
2. Auslagenpauschale, VV 7002   20,00 EUR
Zwischensumme 818,20 EUR  
3. Umsatzsteuer, VV 7008   155,46 EUR
Gesamt   973,66 EUR
II. Gerichtliche Tätigkeit    
1. 1,3-Verfahrensgebühr, VV 3100   798,20 EUR
2. 1,2-Terminsgebühr, VV 3104   736,80 EUR
3. Auslagenpauschale, VV 7002   20,00 EUR
Zwischensumme 1.555,00 EUR  
4. Umsatzsteuer, VV 7008   295,45 EUR
Gesamt   1.850,45 EUR

Der Gesamtbetrag der Gebühren beläuft sich auf 2.824,11 EUR. Der Anwalt kann jedoch nach § 15a Abs. 1 RVG insgesamt nur 2.349,18 EUR geltend machen, da dies dem Betrag nach Anrechnung einer 0,65-Gebühr (hälftige Geschäftsgebühr) aus 10.000 EUR entspricht. Der Anwalt hat allerdings ein Wahlrecht, ob er beispielsweise die Geschäftsgebühr in voller Höhe vom Mandanten fordert und die Verfahrensgebühr nur in Höhe von 0,65 oder umgekehrt.

[5] Vgl. BGH AGS 2007, 283; BGH NJW 2007, 2049; BGH NJW 2007, 2050; BGH NJW 2007, 3500; BGH NJW 2008, 1323; a.A.: KG AGS 2008, 216; Hansens, RVGreport 2008, 121 und 149; N. Schneider, AGS 2008, 218; Schons, AnwBl 2008, 356; Nugel, zfs 2007, 491; Enders, JurBüro 2007, 561.
[6] OLG Celle JurBüro 2008, 191; KG AGS 2008, 216; KG AGS 2007, 439; OLG Stuttgart AGS 2008, 43; OLG Karlsruhe AGS 2007, 494; AG Köln AGS 2007, 499; OLG Koblenz AGS 2007, 642; OLG Koblenz AnwBl 2008, 149; OLG Rostock AGS 2008, 46; OLG Saarbrücken AGS 2008, 46; OLG Hamm AGS 2008, 47; OLG München JurBüro 2007, 637; LG Heidelberg JurBüro 2007, 638; AG St. Goar JurBüro 2008, 26; AG Fritzlar JurBüro 2008, 81; OLG Schleswig AGS 2008, 42; Schons, AnwBl 2008, 356; Hansens, RVGreport 2008, 149; N. Schneider, AGS 2008, 44.
[8] Vgl. BGH RVGreport 2008, 310 = AGS 2008, 441; BGH RVGreport 2008, 311; BGH RVGreport 2008, 148; BGH RVG prof. 2008, 117; ebenso OLG Frankfurt AGS 2008, 442.
[9] Die Auswirkungen der Anrechnung gegenüber Dritten sind nunmehr in § 15a Abs. 2 RVG geregelt (vgl. dazu Rdn 107 ff.).

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