Gundolf Rüge, Dr. iur. Holger Fahl
Rz. 31
Der Begriff der höheren Gewalt, der sich auch in anderen Gesetzen findet (vgl. § 4 UmweltHG, § 89 Abs. 2 Satz 3 WHG, §§ 206, 651j Abs. 1, 701 Abs. 3 BGB, Art. 54 Abs. 1 WG, Art. 48 Abs. 1 ScheckG), ist gesetzlich nicht definiert. Er ist durch die Rechtsprechung näher bestimmt worden. Das Merkmal der höheren Gewalt ist ein wertender Begriff, mit dem diejenigen Risiken von der Haftung ausgeschlossen werden sollen, die mit dem Bahnbetrieb nichts zu tun haben und bei einer rechtlichen Bewertung nicht mehr dem Betrieb der Bahn, sondern allein einem Drittereignis zugerechnet werden können.
Rz. 32
Höhere Gewalt im Sinne des § 1 Abs. 2 HaftpflG ist ein betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch die äußerste, nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmen in Kauf zu nehmen ist.
Rz. 33
Höhere Gewalt ist mithin eine Einwirkung von außen, die außergewöhnlich und nicht abwendbar ist. Betriebsinterne Ursachen von Schäden sind schon deswegen keine höhere Gewalt, weil sie nicht von außen einwirken. Um höhere Gewalt kann es sich nur ausnahmsweise handeln. Die Beweislast für den seine Haftung ausschließenden Tatbestand der höheren Gewalt trägt der Betriebsunternehmer.
Rz. 34
Die bei höherer Gewalt auf den Bahnbetrieb einwirkende Ursachen müssen außerhalb des Bahnbetriebs und seiner Einrichtungen liegen und dürfen nicht mit seinen Gefahrenquellen zusammenhängen. Das Ereignis muss betriebsfremd sein (sog. "äußerer Zufall"). Es ist jedoch kein räumlich von außen einwirkender Umstand erforderlich. Es genügt die Feststellung, dass das Ereignis außerhalb eines Zusammenhangs mit dem Bahnbetrieb steht, seine Gründe also nicht in dem Betrieb oder seinen Einrichtungen selbst hat.
Rz. 35
Außergewöhnlich ist ein Ereignis, das eine seltene Ausnahmeerscheinung darstellt, das man als Schicksalsschlag empfindet, als unerhört und ungeheuer, und das den Rahmen des Gewohnten augenscheinlich und mächtig überschreitet. Das Ereignis muss so ungewöhnlich sein, dass es in seinem Ausnahmecharakter einem elementaren Ereignis gleichkommt. Gewöhnliche Naturereignisse lassen die Berufung auf höhere Gewalt somit nicht zu. Und auch extremere Witterungsbedingungen, die zwar selten, aber mit gewisser Regelmäßigkeit auftreten, begründen keine höhere Gewalt, weil sich der Unternehmer auf sie einrichten kann.
Rz. 36
Unabwendbar ist ein Ereignis, das mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln durch die äußerste, nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet werden kann. Die Sorgfaltspflicht erstreckt sich darauf, das Ereignis nicht eintreten zu lassen oder es in seinen Folgen unschädlich zu machen. Die Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt durch den Betriebsunternehmer und seine Bediensteten reicht hierfür nicht aus. Die vom Unternehmer anzuwendenden Mittel müssen technisch möglich und wirtschaftlich tragbar, ihm also vernünftigerweise zuzumuten sein.
Rz. 37
Beispiele aus Rechtsprechung und Schrifttum
Höhere Gewalt bejaht:
Abrollen eines Felsblockes in nicht steinschlaggefährdeter Gegend; absichtliches Herausstoßen vor oder aus fahrendem Bahnfahrzeug; Attentate und Sabotageakte; Beschädigung oder Verstellen von Weichen durch Unbefugte; Flugzeugabsturz auf Zug; Generalstreik; Kriegs- und Krisenfälle; Luftangriff; Schneesturm, starker, der Entgleisung bewirkt; Suizid; Versperrung des Schienenraums mit Schwellen oder Dampfwalze; Versperren der Schienen mit einem Fahrrad; Werfen von Gegenständen gegen Bahnfahrzeug.
Höhere Gewalt verneint:
Baumsturz auf Gleise; Eisenbahnerstreik; Fehlverhalten des Geschädigten; Felsbrocken auf Gleisen; Folgen ordnungsgemäßen und gestörten Bahnbetriebs; Funkenflug; selbstgefährdende Handlungen; Schneewall; Schrankenanlage defekt; Sprung aus dem anfahrenden Zug; Sturm mit 11 Beaufort; Sturz Reisender; Tiere auf den Gleisen; Verhalten des Bahnpersonals; Versperrung des Schienenraums; Weidevieh auf den Bahngleisen; Werfen von Gegenständen aus fahrendem Zug; Zusammenstöße mit anderen Fahrzeugen oder Personen.