Rz. 176
Die vorvertragliche Anzeigepflicht dient dazu, dem Versicherer vor Abschluss des Vertrages Kenntnis der Risikoverhältnisse zu verschaffen und ihm damit die Entscheidung zu ermöglichen, ob und zu welchen Bedingungen er den Versicherungsantrag annimmt.
Nach B 3.1.1 VHB 2022 hat der Versicherungsnehmer alle Antragsfragen wahrheitsgemäß zu beantworten. Antragsfragen sind diejenigen, die der Versicherer in dem Antragsformular stellt. Bei der Beantwortung von vorformulierten Antragsfragen geht es aber nicht zu Lasten des Versicherungsinteressenten, wenn der Agent durch einschränkende Bemerkungen zu den gestellten Fragen verdeckt, was auf die jeweilige Frage anzugeben und in das Formular aufzunehmen ist.
Da die Formulierung der Fragen und die Auswahl dessen, was danach als für die Übernahme der Gefahr wesentlich angesehen wird, allein durch den Versicherer erfolgt, genügt der Versicherungsnehmer seiner vorvertraglichen Anzeigepflicht grundsätzlich immer dann, wenn er die ihm gestellten Fragen wahrheitsgemäß beantwortet. Eine darüber hinausgehende Offenbarungspflicht besteht nach der durch die Rechtsprechung interpretierten Gesetzeslage nur bei Arglist.
Hinweis
Die vorvertragliche Anzeigepflicht hat nach dem bisherigen Recht nicht mit wahrheitsgemäßer Beantwortung der in dem Versicherungsantrag enthaltenen Fragen geendet, sondern bei dem bislang üblichen Vertragsabschluss im Policenmodell erst mit dem (späteren) Vertragsabschluss (§ 16 Abs. 1 VVG a.F.). Bei wesentlichen Veränderungen bestand deshalb eine Nachmeldepflicht des Versicherungsnehmers. § 19 VVG sieht eine derartige Nachmeldepflicht nur noch vor, wenn der Versicherer in der Zeit zwischen Antragstellung und Annahme des Versicherungsantrags ausdrücklich nachfragt.
Rz. 177
Bei der Antragsaufnahme ist der Versicherungsagent "Auge und Ohr" des Versicherers. Was einem Agenten im Rahmen der Antragsaufnahme mit Bezug auf diesen Antrag zur Kenntnis gebracht wird, ist deshalb auch dann dem Versicherer zur Kenntnis gebracht, wenn es keine Aufnahme in das Antragsformular findet. Das gilt selbst dann, wenn der Versicherungsanwärter das Antragsformular blanko unterschreibt. Ein lediglich privates Wissen des Versicherungsagenten von Gefahrumständen genügt für die Wissenszurechnung zu Lasten des Versicherers aber nicht. Wird das Antragsformular, wie meist, vollständig von dem Agenten ausgefüllt und von dem Versicherungsnehmer nur unterschrieben, trifft den Versicherer die Beweislast dafür, dass die von dem Versicherungsnehmer behauptete mündliche Anzeige des nachgefragten Gefahrumstandes unterblieben ist. Durch Schriftformklauseln kann die Wissenszurechnung nicht unterlaufen werden. Kenntnis hat der Versicherer auch dann erlangt, wenn der Agent die Wohnung des Versicherungsnehmers besichtigt und bei dieser Besichtigung den Gefahrumstand wahrgenommen hat. Dem Agenten stehen angestellte Mitarbeiter des Versicherers gleich. Das Wissen des Versicherungsmaklers kann dem Versicherer dagegen regelmäßig nicht zugerechnet werden, da er im Lager des Versicherungsnehmers steht. Unter besonderen Umständen, etwa wenn einem Makler von dem Versicherer die Betreuung bestimmter Spezialtarife exklusiv übertragen ist, kann dies ausnahmsweise anders sein; dazu reicht für sich allein aber nicht aus, dass der Makler von dem Versicherer wie ein Agent mit Antragsformularen und Beitragstabellen ausgestattet worden ist.
Allerdings ist es dem Versicherungsnehmer verwehrt, sich bei kollusivem Zusammenwirken mit dem Agenten und dann auf diesem gemachte wahrheitsgemäße Angaben zu berufen, wenn er positiv weiß oder jedenfalls damit rechnet oder nach Treu und Glauben damit rechnen muss, dass der Versicherer von diesem nicht zutreffend unterrichtet wird. An den Nachweis der Evidenz des Vollmachtsmissbrauchs ist dabei wegen der besonderen Stellung des Versicherungsagenten, der dem Antragsteller zu Auskunft und Beratung verpflichtet ist, ein strenger Maßstab anzulegen. Eine weitere Grenze findet die "Auge-und-Ohr"-Rechtsprechung ausnahmsweise dann, wenn der Agent im konkreten Fall nicht im Lager des Versicherers steht, sondern diesem bei Antragstellung als rechtsgeschäftlicher Vertreter des Versicherungsinteressenten gegenübertritt. Kommt der gewünschte Versicherungsschutz aufgrund Fehlberatung durch den "Versicherungsfachmann" nicht zustande, kann dieser persönlich auf Schadensersatz haften.