Rz. 50
Die Vorgabe der ununterbrochenen Ruhezeit von elf Stunden ist mit der Arbeitswirklichkeit in der Arbeitswelt 4.0 nur schwer kompatibel. Daraus folgt z.B., dass ein Arbeitnehmer, der abends von zu Hause an einer Telefonkonferenz mit einem Konzernteil in einer anderen Zeitzone teilnimmt, am nächsten Morgen ohne Verstoß gegen das ArbZG nicht wieder zur gewohnten Zeit die Arbeit aufnehmen kann. Gleiches gilt für einen Arbeitnehmer, der das Büro am frühen Nachmittag verlässt, um kurzfristig die Betreuung seines Kindes zu übernehmen und abends von zu Hause aus noch einmal arbeitet, indem er ein Dokument fertigstellt oder E-Mails bearbeitet.
Rz. 51
Aus diesem Grund plädieren zahlreiche Stimmen in der Literatur für eine teleologische Reduktion von § 5 ArbZG, wonach "geringfügige" Unterbrechungen ("Bagatellunterbrechungen") der Ruhezeit unschädlich sein sollen. Dies setzt wiederum auch eine teleologische Reduktion von Art. 5 Abs. 1 EU-Arbeitszeitrichtlinie voraus. Die Befürworter dieser Lösung argumentieren, der Erholungszweck der Ruhezeit werde durch kurzfristige Arbeitsleistung nicht ernstlich gefährdet. Zudem seien die Arbeitnehmer bei selbst gestalteter Arbeitszeit weniger schutzbedürftig.
Rz. 52
Es wird deshalb vorgeschlagen, dass der Grundsatz, wonach jede Unterbrechung der Ruhezeit zu einer erneuten ununterbrochenen Ruhezeit von mindestens elf Stunden führt, einer Einschränkung bedürfe. Zweck der Ruhezeit sei es insbesondere, den Arbeitnehmer vor gesundheitlichen Schäden durch Überanstrengung zu bewahren und ihm durch gründliches Ausruhen die Möglichkeit zur Erholung und Erhaltung seiner Arbeitskraft zu geben. Bei "geringfügigen" Unterbrechungen ("Bagatellunterbrechungen") der Ruhezeit oder bei Unterbrechungen, die den Arbeitnehmer kaum belasteten, sei es durchaus vorstellbar, dass sie diesen Erholungszweck nicht gefährdeten. In diesen Fällen erfordere der Gesetzeszweck nicht den Lauf einer neuen ununterbrochenen Ruhezeit von mindestens elf Stunden. Solche Unterbrechungen seien deshalb nach Sinn und Zweck der Regelung unschädlich. In diesem Fall könnten die Ruhezeiten vor und nach der Unterbrechung zusammengerechnet werden.
Rz. 53
Befürworter dieser Ansicht argumentieren, dass eine einmalige und nicht länger als etwa 10 bis 15 Minuten dauernde Unterbrechung regelmäßig als unwesentliche Störung anzusehen sei, die nicht zu einer erneuten ununterbrochenen Ruhezeit von mindestens elf Stunden führe. Im Hinblick auf den Gesundheitsschutz der Mitarbeiter als Zweck der Ruhezeit sei aber eine erneute Ruhezeit zu gewähren, wenn der Mitarbeiter mehrfach kontaktiert werde oder eine einmalige Unterbrechung die Dauer von 15 Minuten überschreite. Ein solcher Umfang der Inanspruchnahme dürfte regelmäßig eine Belastung darstellen, so dass nicht mehr von einer ungestörten Erholung gesprochen werden könne.
Rz. 54
Ungeachtet dessen müsse die Hauptfunktion der Ruhezeit, insbesondere eine ausreichende Nachtruhe, erhalten bleiben. Damit dürfte es unvereinbar sein, die Gesamtdauer der Ruhezeit unter neun Stunden abzusenken, selbst wenn im Schnitt elf Stunden erreicht würden.
Rz. 55
Demgegenüber wird darauf verwiesen, dass die Nichtberücksichtigung von unerheblichen Unterbrechungen bei der Ruhezeit nicht mit dem ArbZG und der erforderlichen Rechtssicherheit vereinbar sei. Eine Grenzziehung zwischen erheblicher und nicht erheblicher Unterbrechung der Ruhezeit sei willkürlich und kaum handhabbar, möglicherweise gar von individuellen Faktoren abhängig. Derartigen Unsicherheiten könne nur damit begegnet werden, dass – einheitlich im gesamten Arbeitszeitrecht – jede Art der Arbeitszeit als solche gewertet werde. Die Tatsache, dass dies zu Betriebsablaufstörungen führen könne (entsprechend späterer Beginn der Arbeitszeit am Folgetag), rechtfertige nicht die Abweichung von den Bestimmungen des ArbZG.
Rz. 56
Es sei auch zweifelhaft, ob der EuGH die Einschränkung der ununterbrochenen Ruhezeit billigen würde. Der EuGH definiere die Begriffe der Arbeitszeit und der Ruhezeit negativ voneinander. Zwischenstufen würden nicht anerkannt. Da die Intensität der vom Arbeitnehmer geleisteten Arbeit für den Arbeitszeitbegriff nicht maßgeblich sei, seien auch Zeiten geringerer Beanspruchung keine Ruhezeiten, sondern als Arbeitszeit zu werten.
Rz. 57
Praxistipp
Es besteht derzeit keine verlässliche Rechtsgrundlage, um kurzfristige und "geringfügige" Arbeitsbelastungen, z.B. durch Lesen und Beantworten von E-Mails, nicht als Arbeitszeit einzuordnen. Daher sollte in der betrieblichen Praxis auf die Einhaltung der elfstündigen, ununterbrochenen Ruhezeit geachtet werden. Dabei sind auch die Sanktionen bei Verstößen zu beachten, deren Adressat allein der Arbeitgeber ist (vgl. Rdn 49).
Risikobereite Arbeitgeber werden "geringfügige" Unterbrechungen (weiterhin) zulassen oder dulden. Dies ist angesichts der geltenden Rechtslage jedoch mit erheblichen Risiken behaftet. Es ist sehr zweifelhaft, ob die Rechtsp...