Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 203
Fallbeispiel 27: Die bedürftige Erbin und die ambulante Hilfe zur Pflege (§§ 61 ff. SGB XII)
Die schwer körperbehinderte Sozialhilfeempfängerin (Pflegegrad 5), die zu Hause lebt, wohnt zur Miete. Die Miete beläuft sich auf 300 EUR zzgl. 50 EUR Heizkosten. Täglich benötigt sie vier Stunden Pflege durch eine Pflegefachkraft. Weitere vier Stunden leistet ein Angehöriger. Die monatlichen Kosten des Pflegedienstes belaufen sich auf 2.400 EUR.
Sie beansprucht:
Leistungen für die Kosten der Heranziehung einer besonderen Pflegekraft nach § 64b i.V.m. § 64f SGB XII (Pflege im Arbeitgebermodell).
Die Sozialhilfebezieherin erhält vermächtnisweise das Nießbrauchsrecht an einem Mehrfamilienhaus mit regelmäßigen Mieteinnahmen in Höhe von 2.500 EUR monatlich. Muss diese Sozialhilfebezieherin ihre erbrechtliche Begünstigung vollständig einsetzen? Bzw. fallen die ihr bewilligten Leistungen ganz oder teilweise weg?
Rz. 204
Ein Zufluss von Mitteln im Bedarfszeitraum hat nach der Rechtsprechung im SGB XII grundsätzlich erst einmal die Rechtsqualität des Einkommens. Einkommen kann aber nur das sein, was Geld oder Geldeswert hat. Geldeswert setzt voraus, dass der Zufluss "marktgängig" ist und einem bei Verwertung einen Geldbetrag ergibt. Der Nießbrauch ist aber nach § 1059 BGB unveräußerbar und er erlischt mit dem Tod. Also ist die Einkommensqualität zu verneinen. Die Vermögensqualität nach § 90 Abs. 1 SGB XII setzt tatsächliche oder rechtliche Verwertbarkeit voraus. Es mangelt an der rechtlichen Verwertbarkeit. Das aus Erbfall erworbene Nießbrauchsrecht ist daher zunächst einmal sozialhilfeneutral. Nicht neutral sind aber die daraus zu ziehenden Nutzungen (§ 100 BGB). Sie sind als regelmäßige Zuflüsse im Bedarfszeitraum zu prüfen. Nach der modifizierten Zuflusstheorie sind die Erträge, die der Antragstellerin aus dem Nießbrauch zufließen, Einkommen.
Rz. 205
Für die Sozialhilfebezieherin geht es um Leistungen auf Grundsicherung (§§ 41 ff. SGB XII) und Hilfe zur Pflege (§§ 61 ff. SGB XII). Die Berücksichtigung der Erträge erfolgt nach
Für den Anspruch auf Hilfe zur Pflege gilt: Soweit das zu berücksichtigende Einkommen (§ 82 SGB XII) die Einkommensgrenze übersteigt, ist die Aufbringung der Mittel nach § 87 SGB XII in angemessenem Umfang zuzumuten. Nach § 88 SGB XII kann allerdings auch der Einsatz unterhalb der Einkommensgrenze verlangt werden, soweit von einem anderen – der auch ein privater Dritter sein kann – Leistungen für einen besonderen Zweck erbracht werden, für den sonst Sozialhilfe zu leisten wäre. Der besondere Zweck muss nicht ausdrücklich genannt werden, sondern kann sich auch aus den Umständen des Falles ergeben. Es kommt auch nicht darauf an, ob die Leistungen freiwillig geleistet werden oder ob ein Anspruch darauf besteht.
Hinweis
Zweckzuwendungen sind bei Bezug von Hilfe in speziellen Lebenslagen immer der Kontrolle in Bezug auf § 88 SGB XII zu unterziehen.
Rz. 206
Für Leistungen, die nicht in einer stationären Einrichtung erbracht werden, ist § 87 Abs. 1 SGB XII die einschlägige Norm. Die Angemessenheitsprüfung hat insbesondere die Art des Bedarfs, die Art oder Schwere der Behinderung oder der Pflegebedürftigkeit, die Dauer und Höhe der erforderlichen Aufwendungen sowie besondere Belastungen der nachfragenden Person und ihrer unterhaltsberechtigten Angehörigen zu berücksichtigen. Auch Schulden sind hier als Abzugsposten zu berücksichtigen. Bei Pflegebedürftigen der Pflegegrade 4 und 5 und blinden Menschen nach § 72 SGB XII ist ein Einsatz des Einkommens über der Einkommensgrenze in Höhe von mindestens 60 vom Hundert nicht zuzumuten.
Rz. 207
Falllösung Fallbeispiel 27:
Die Nießbrauchsberechtigte muss ihren Grundsicherungsbedarf vollständig aus den zufließenden Erträgen finanzieren. Die Einkommensgrenze für den zumutbaren Einsatz von Einkommen für die Hilfe zur Pflege errechnet sich für 2021 aus dem doppelten Regelbedarfsbetrag, Miete und dem Familienzuschlag. Heizkosten werden nicht berücksichtigt. Da die Nießbrauchsberechtigte den Pflegegrad 5 hat, sind mindestens 60 % des Betrages, der die Einkommensgrenze übersteigt, anrechnungsfrei zu lassen. Es bleibt also trotz Finanzierung der eigenen Grundsicherung ein doch durchaus beachtlicher Betrag monatlich zur freien Verfügung.