Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 171
Fallbeispiel 24: Was soll das Kind mit dem Erbe I?
M (84 Jahre) und F (82 Jahre), bescheidene und fleißige – aber rechtlich völlig unbedarfte – Menschen haben einen geistig und körperlich behinderten Sohn S, der viel Versorgung und Betreuung benötigt. Er ist nicht erwerbsfähig. Ihr Leben hat sich immer nur um ihren Sohn gedreht.
Ein Testament haben die Eheleute nicht. Als F mit 82 Jahren stirbt, geht M davon aus, dass ihm das Guthaben auf dem Sparbuch der Ehegatten (100.000 EUR) jetzt alleine zusteht, "weil S ja mit Geld sowieso nichts anfangen kann." Eine Grundbuchberichtigung findet nicht statt.
Als M seinen Sohn nicht mehr selbst versorgen kann, möchte er wissen, ob für die Versorgung seines Sohnes Sozialleistungen in Betracht kommen. M fragt nach der erbrechtlichen Situation seines Sohnes nach seinem Tod.
Für die Versorgung des behinderten Sohnes kommen wahrscheinlich Eingliederungshilfe nach SGB IX und Grundsicherung mit einem Wohnen in einer besonderen Wohnform (§§ 41 ff. SGB XII) in Betracht. Zu den Leistungen der Eingliederungshilfe ist nach Maßgabe des 9. Kapitels nach § 92 SGB IX ein Beitrag nach den dortigen Einkommens- und Vermögensvorschriften aufzubringen. Die Betrachtung beschränkt sich zunächst auf die Gewährung des notwendigen Lebensunterhalts nach SGB XII und den Normen der §§ 82 ff. und § 90 SGB XII.
Rz. 172
Dass man eine Erbschaft auch im SGB XII nicht ohne weiteres als Einkommen oder Vermögen klassifizieren kann, ergibt sich nicht nur aus dem Zuflusszeitpunkt, sondern zeigt sich dann, wenn es um den Anteil eines Miterben (Erbteil) geht (§ 1922 Abs. 2 BGB). Erbteil ist die Beteiligung eines Miterben am Nachlass, die als Bruchteil in Höhe seiner Erbquote ausgedrückt wird. Das Erbteil repräsentiert die Summe aller Rechte und Pflichten aus der Beteiligung an der Erbengemeinschaft, ist also eine Art Mitgliedschaft. Es stellt nicht das wirtschaftliche Ergebnis dieser Beteiligung dar.
Rz. 173
Das Erbteil ist nach §§ 2033, 2037 BGB veräußerbar. Über den ideellen Anteil an einzelnen Nachlassgegenständen kann der einzelne Miterbe nicht verfügen (§ 2033 Abs. 2 BGB). Ein bedürftiger Miterbe erzielt aus seiner Beteiligung am Nachlass unmittelbar deshalb keine "bereiten" Mittel. Der Miterbe kann aber die Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft nach § 2042 BGB verlangen, der ein Anspruch auf Zustimmung zu einem Auseinandersetzungsplan ist. Er gibt dem Miterben zwar auch noch keinen Anspruch auf Herausgabe oder Übereignung eines bestimmten Nachlassgegenstandes – ist also keine Anspruchsgrundlage –, es entsteht aber als Nebenrecht aus dem Erbteil einen Anspruch auf ein Auseinandersetzungsguthaben (§ 2047 BGB). Das BSG hat dazu in einer Entscheidung die Auffassung vertreten, der Anspruch auf Auseinandersetzung und der damit verbundene Anspruch auf einen Anteil am Auseinandersetzungsguthaben gehörten zum Vermögen, das grundsätzlich vorrangig zur Abwendung von Hilfebedürftigkeit einzusetzen sei. Das bedarf der Präzisierung.
Rz. 174
Über seinen Anspruch auf das anteilige Auseinandersetzungsguthaben kann der Miterbe bis zur Auseinandersetzung nicht mit dinglicher Wirkung verfügen. Folglich kann ein solcher Anspruch neben dem Miterbenanteil auch nicht als selbstständiger Anspruch gepfändet werden. Dies bedeutet in letzter Konsequenz, dass ein Anspruch auf ein Auseinandersetzungsguthaben auch nach sozialhilferechtlichen Regressregeln (z.B. Überleitung) nicht alleine ohne den Erbteil übergeleitet werden kann.
Rz. 175
Sozialhilferechtlich leistungsrelevant sind somit vor Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft der Erbteil und seine Nebenrechte. Vor der Erbauseinandersetzung ist damit aber noch kein "bereites" Einkommen oder Vermögen generierbar (fehlende Liquidität). Auch wenn der Erbe als Miterbe über seinen Anteil an dem Nachlass grundsätzlich gem. § 2033 Abs. 1 S. 1 BGB verfügen kann, muss im Rahmen einer vorzunehmenden Prognoseentscheidung zumindest beim Vermögen zu Beginn des jeweiligen Bewilligungszeitraums festgestellt werden, ob ein Verkauf oder eine Verpfändung des Erbteils innerhalb von zwölf Monaten möglich ist. Ein Anspruch auf Auseinandersetzung (§§ 2042 Abs. 1, 2046 ff. BGB) und ein damit verbundener Anspruch auf einen Anteil am Auseinandersetzungsguthaben nach § 2047 BGB ist in der Regel unmittelbar nach dem Erbfall nicht innerhalb von zwölf Monaten verwertbar. Die "Erbschaft" kann dem Sozialleistungsanspruch daher in der Regel solange nichts anhaben, bis daraus Mittel "flüssig gemacht werden können". Erst dann ist weiter zu qualifizieren.
Rz. 176
Nach Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft – die in der Regel sehr kompliziert ist – ist der Anspruch auf das Auseinandersetzungsguthaben sozialhilferechtlich leistungsrelevant. Ob es sich dabei um Einkommen oder Vermögen handelt, hängt im SGB XII wiederum davon ab, wann der Erbfall eingetreten ist. Während des Leistungsbezuges handelt es sich immer um Einkommen im sozialhilferechtlichen Sinne.
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