Chr. Hendrik Scholz, Dr. Tina Witten
a) Typischer Sachverhalt
Rz. 713
Die X GmbH betreibt mehrere Einzelhandelsgeschäfte und ist nicht tarifgebunden. Auf Flugblättern und im Internet erschien ab dem 5.6.2023 unter Hinweis auf die Gewerkschaft V u.a. folgendes, wobei Webseite und Flugblatt auf die namentlich erwähnte Verhandlungsführerin F der Gewerkschaft V sowie deren Landesverband verwiesen.
Zitat
"Am 6.6., 6 Uhr bis 13 Uhr gemeinsam mit den Streikenden eine Filiale bestreiken und dicht machen. Wer über diese und zukünftige Aktionen informiert sein und mitmachen will, schreibt eine Mail und wird dann kurzfristig informiert. Zusammen wollen wir eine Filiale dicht machen, sodass das Unternehmen effektiv bestreikt wird. Das bedeutet auch, Streikbruch zu verhindern."
Die angekündigte Aktion fand am 6.6. von 6 Uhr bis 12 Uhr statt. Auf dem Gehweg vor der Filiale waren Tische und Fahnen der Gewerkschaft V abgestellt. Vor dem Kundeneingang stand ein Metallbogen, an dem ein Schild "Streikbrecher" und Gardinen befestigt waren. Unmittelbar vor dem Eingang befanden sich im Laufe des Vormittags ca. 100 Teilnehmer. Kunden, die die Filiale aufsuchen wollten, mussten sich durch die Menschenmenge drängen und durch das "Streikbrechertor" hindurch, und zwar auch durchschnittlich große Menschen in leicht gebückter Haltung. Kunden, die auf diese Weise die Filiale betreten wollten, wurden mit Trillerpfeifen ausgepfiffen oder als "Streikbrecher" bezeichnet. Mehrere Zulieferer für die Filiale, die im Laufe des Vormittags Produkte brachten, konnten die Filiale nicht ungehindert betreten.
b) Rechtliche Grundlagen
aa) Generelle Vorbemerkungen
Rz. 714
Ein geschriebenes Arbeitskampfrecht existiert nicht. Alleinige nationale normative Grundlage ist Art. 9 Abs. 3 GG. Große Bedeutung kommt daher den Entscheidungen des BAG sowie jedenfalls in einstweiligen Verfügungsverfahren den LAGs zu. Denn bei EV-Verfahren findet eine Revision zum BAG gemäß § 72 Abs. 4 ArbGG nicht statt. Daneben gewährleisten die EGMR sowie das Unionsrecht, namentlich Art. 28 Grundrechte Charta, den Arbeitskampf. Grundsätzlich kommen als Mittel des Arbeitskampfs der Streik und die (Abwehr)Aussperrung in Betracht. Letztere spielt nicht zuletzt aufgrund der durch die Rechtsprechung des BAG und des BVerfG gezogenen Grenzen in der Praxis keine große Rolle, sodass hier nur der Streik behandelt wird. Dessen grundsätzliche Zulässigkeit folgt aus Art. 9 Abs. 3 GG. Vom Grundrechtsschutz erfasst sind prinzipiell sämtliche Betätigungen einer Koalition im Rahmen der besonderen Zwecksetzung der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Die somit erforderliche Abgrenzung zu anderen gleichfalls mit Verfassungsrang ausgestatteten Positionen, namentlich dem Schutz des Eigentums des Arbeitgebers aus Art. 14 GG, stellt jedoch für die Rechtsprechung ebenso eine zu berücksichtigende Größe bei der Bewertung der Rechtmäßigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen dar, wie der mit Verfassungsrang versehene Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
Rz. 715
Ausgehend von diesen wenigen normativen Vorgaben hat die Rechtsprechung einen eigenen Prüfungskanon entwickelt. Danach muss ein rechtmäßiger Streik zumindest folgende Voraussetzungen erfüllen: Führung durch tariffähige Parteien über tariflich regelbare Ziele. Weder aus der unionsrechtlichen Verankerung des Streikrechts in Art. 28 GRC folgt Abweichendes hinsichtlich des letzten Punktes, weil zum einen der Union im Arbeitskampfrecht die Rechtsetzungskompetenz fehlt (Art. 153 Abs. 5 AEUV) und zum anderen die GRC nicht über den in Art. 51 Abs. 1 GRC beschriebenen Kreis hinaus Anwendung findet, noch aus Art. 11 EMRK, woraus der EGMR den Schutz des Streikrechts ableitet. Weitere Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen sind die Beachtung etwaiger Friedenspflichten sowie des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Erforderlich sind ferner eine ordnungsgemäße Beschlussfassung über und eine Bekanntgabe der Kampfziele. Allerdings sind nach Ablauf der Friedenspflicht verhandlungsbegleitende Streiks zulässig, ohne dass es einer Vorankündigung der Arbeitskampfmaßnahme oder eines förmlichen Scheiterns der Verhandlungen bedarf. Dies gilt jedenfalls, soweit vor Arbeitskampfmaßnahmen kein Schlichtungsverfahren durchlaufen werden muss. Die Beteiligungsrechte des Betriebsrats sind im Arbeitskampf beschränkt.
Rz. 716
Praxisrelevant sind Verstöße gegen bestehende Friedenspflichten. Die relative Friedenspflicht verbietet den Tarifvertragsparteien, während der Laufzeit eines Tarifvertrages einen Arbeitskampf zu führen oder ihre Mitglieder zu einem solchen aufzurufen mit dem Ziel, eine tariflich geregelte Materie zu beseitigen oder abzuändern. Im Gegensatz zur absoluten Friedenspflicht,...