Chr. Hendrik Scholz, Dr. Tina Witten
a) Allgemeines
aa) Antragsbefugnis, Prozessstandschaft
Rz. 335
Wenn § 23 Abs. 3 S. 1 BetrVG als antragsbefugt den Betriebsrat nennt, sind damit im Rahmen ihrer Zuständigkeit auch Gesamtbetriebsrat und Konzernbetriebsrat gemeint. Zudem kann nach dem Gesetzeswortlaut jede im Betrieb vertretene Gewerkschaft einen Antrag stellen.
Grundsätzlich kann der Betriebsrat nicht die Rechte anderer – insbesondere die individualrechtlichen Ansprüche der Arbeitnehmer –, sondern nur eigene Rechte geltend machen. Für § 23 Abs. 3 BetrVG sieht dessen S. 1 jedoch eine Prozessstandschaft vor. Dadurch kann der Betriebsrat in eigenem Namen Rechte der Arbeitnehmer geltend machen, soweit das BetrVG solche Rechte mit kollektivem Bezug begründet, so z.B. nach § 81 Abs. 4 S. 3 und § 82 Abs. 2 S. 2 BetrVG (Hinzuziehung des Betriebsrats) oder nach § 75 BetrVG (Benachteiligungsverbot). Der Betriebsrat kann auch Rechte der Gewerkschaft geltend machen, z.B. auf Zugang zum Betrieb (§ 2 Abs. 2 BetrVG), ebenso wie § 23 Abs. 3 BetrVG es umgekehrt der Gewerkschaft ermöglicht, ein Beschlussverfahren wegen Verletzung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats zu führen.
bb) Pflichten nach dem BetrVG
Rz. 336
§ 23 Abs. 3 BetrVG betrifft Verpflichtungen des Arbeitgebers, die im BetrVG oder im AGG begründet sind (§ 17 Abs. 2 AGG). Allerdings sind auch Verstöße, die andere Gesetze verletzen, z.B. die Beteiligung des Betriebsrats vor Massenentlassungen nach § 17 Abs. 2 KSchG oder im Schwerbehindertenrecht nach § 182 SGB IX (Zusammenarbeit zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen), als betriebsverfassungsrechtliche Verstöße i.S.d. § 23 Abs. 3 BetrVG erfasst, soweit sie die betriebsverfassungsrechtlichen Rechtsbeziehungen näher ausgestalten.
Rz. 337
Auch Pflichten, die sich für den Arbeitgeber aus einer Betriebsvereinbarung (ggf. in Form eines Spruchs einer Einigungsstelle) ergeben, fallen unter die Verpflichtungen i.S.v. § 23 Abs. 3 BetrVG. Allerdings hat der Betriebsrat regelmäßig bereits unmittelbar nach § 77 Abs. 1 S. 1 BetrVG einen Anspruch auf ordnungsgemäße Durchführung der Vereinbarung – und somit unabhängig davon, ob ein grober Verstoß vorliegt.
b) Materiellrechtlich
aa) Grober Verstoß
Rz. 338
Der Anspruch nach § 23 Abs. 3 BetrVG setzt voraus, dass der Arbeitgeber bereits einen groben Verstoß begangen hat. Die bloße Besorgnis, der Arbeitgeber werde gegen seine Pflichten grob verstoßen, reicht nicht aus.
Rz. 339
Ein Pflichtverstoß ist nach ständiger BAG-Rechtsprechung grob, wenn er "objektiv erheblich und offensichtlich schwerwiegend" ist. Mit dieser Formel ist eine objektive und eine subjektive Komponente angesprochen. Die Schwere des Verstoßes muss für den Arbeitgeber erkennbar sein; ein Verschulden ist aber nicht nötig.
Auch eine einmalige Pflichtverletzung kann einen groben Verstoß darstellen, wenn sie schwerwiegend ist.
Ein grober Verstoß liegt nicht vor, wenn der Arbeitgeber in einer schwierigen und ungeklärten Rechtsfrage eine bestimmte Meinung vertritt.
Auch leichtere Verstöße können bei Wiederholung zu einem groben Verstoß führen; ein grober Verstoß ist regelmäßig dann zu bejahen, wenn der Arbeitgeber mehrmals erzwingbare Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats übergangen hat.
Rz. 340
Der grobe Verstoß des Arbeitgebers muss – außer bei AGG-Verstößen (§ 17 Abs. 2 AGG) – einen kollektiven Tatbestand berühren. Insbesondere scheiden Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bei individuellen Maßnahmen ohne kollektiven Bezug aus (vgl. § 3 Rdn 487).