Chr. Hendrik Scholz, Dr. Tina Witten
Rz. 714
Ein geschriebenes Arbeitskampfrecht existiert nicht. Alleinige nationale normative Grundlage ist Art. 9 Abs. 3 GG. Große Bedeutung kommt daher den Entscheidungen des BAG sowie jedenfalls in einstweiligen Verfügungsverfahren den LAGs zu. Denn bei EV-Verfahren findet eine Revision zum BAG gemäß § 72 Abs. 4 ArbGG nicht statt. Daneben gewährleisten die EGMR sowie das Unionsrecht, namentlich Art. 28 Grundrechte Charta, den Arbeitskampf. Grundsätzlich kommen als Mittel des Arbeitskampfs der Streik und die (Abwehr)Aussperrung in Betracht. Letztere spielt nicht zuletzt aufgrund der durch die Rechtsprechung des BAG und des BVerfG gezogenen Grenzen in der Praxis keine große Rolle, sodass hier nur der Streik behandelt wird. Dessen grundsätzliche Zulässigkeit folgt aus Art. 9 Abs. 3 GG. Vom Grundrechtsschutz erfasst sind prinzipiell sämtliche Betätigungen einer Koalition im Rahmen der besonderen Zwecksetzung der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Die somit erforderliche Abgrenzung zu anderen gleichfalls mit Verfassungsrang ausgestatteten Positionen, namentlich dem Schutz des Eigentums des Arbeitgebers aus Art. 14 GG, stellt jedoch für die Rechtsprechung ebenso eine zu berücksichtigende Größe bei der Bewertung der Rechtmäßigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen dar, wie der mit Verfassungsrang versehene Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
Rz. 715
Ausgehend von diesen wenigen normativen Vorgaben hat die Rechtsprechung einen eigenen Prüfungskanon entwickelt. Danach muss ein rechtmäßiger Streik zumindest folgende Voraussetzungen erfüllen: Führung durch tariffähige Parteien über tariflich regelbare Ziele. Weder aus der unionsrechtlichen Verankerung des Streikrechts in Art. 28 GRC folgt Abweichendes hinsichtlich des letzten Punktes, weil zum einen der Union im Arbeitskampfrecht die Rechtsetzungskompetenz fehlt (Art. 153 Abs. 5 AEUV) und zum anderen die GRC nicht über den in Art. 51 Abs. 1 GRC beschriebenen Kreis hinaus Anwendung findet, noch aus Art. 11 EMRK, woraus der EGMR den Schutz des Streikrechts ableitet. Weitere Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen sind die Beachtung etwaiger Friedenspflichten sowie des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Erforderlich sind ferner eine ordnungsgemäße Beschlussfassung über und eine Bekanntgabe der Kampfziele. Allerdings sind nach Ablauf der Friedenspflicht verhandlungsbegleitende Streiks zulässig, ohne dass es einer Vorankündigung der Arbeitskampfmaßnahme oder eines förmlichen Scheiterns der Verhandlungen bedarf. Dies gilt jedenfalls, soweit vor Arbeitskampfmaßnahmen kein Schlichtungsverfahren durchlaufen werden muss. Die Beteiligungsrechte des Betriebsrats sind im Arbeitskampf beschränkt.
Rz. 716
Praxisrelevant sind Verstöße gegen bestehende Friedenspflichten. Die relative Friedenspflicht verbietet den Tarifvertragsparteien, während der Laufzeit eines Tarifvertrages einen Arbeitskampf zu führen oder ihre Mitglieder zu einem solchen aufzurufen mit dem Ziel, eine tariflich geregelte Materie zu beseitigen oder abzuändern. Im Gegensatz zur absoluten Friedenspflicht, die jegliche Arbeitskampfmaßnahmen während ihrer Dauer verbietet, muss die relative Friedenspflicht nicht besonders vereinbart werden, sondern ist dem Tarifvertrag immanent. Die Reichweite der relativen Friedenspflicht lässt sich durch Auslegung der tariflichen Regelungen ermitteln. Zwar werden unterschiedliche Auffassungen vertreten, wie konkret ein Thema inhaltlich geregelt sein muss, damit es der relativen Friedenspflicht unterfällt. Dem BAG zufolge ist eine Thematik jedoch bereits von der relativen Friedenspflicht erfasst, wenn die Tarifvertragsparteien "eine bestimmte Sachmaterie erkennbar umfassend geregelt" haben. Daher ist ein Arbeitskampf, gerichtet auf die Durchsetzung weiterer Regelungen, "die in einem sachlichen inneren Zusammenhang mit dem befriedeten Bereich stehen", wegen eines Verstoßes gegen die Friedenspflicht rechtswidrig. Das BAG nimmt in seiner Entscheidung zur Zulässigkeit eines "Tarifsozialplans" grundsätzlich keinen Verstoß gegen die Friedenspflicht an, wenn ein verbandsangehöriger Arbeitgeber wegen des Abschlusses eines gesonderten Haustarifvertrages bestreikt wird, sofern die mit dem Haustarifvertrag erstrebten Arbeitsbedingungen nicht zugleich Gegenstand des Flächentarifvertrages und daher der Friedenspflicht sind. Da der gesamte Arbeitskampf rechtswidrig ist, wenn auch nur gegen eine der vorgenannten Mindest-Wirksamkeitsvoraussetzungen verstoßen wird ("Rührei-Theorie"), und ein Verstoß gegen die relative Friedenspflicht in der Praxis gemeinsam mit Verstößen gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i.d.R. den einzigen Ansatzpunkt für eine Rechtmäßigkeitsprüfung bieten, muss der Praktiker hierauf besonderes achten. Neben der Entscheidung des 1. Senats des BAG zum Tarifsozialplan und der vom 19.6.2007 zur Zulässigkeit von Unterstützungsstreiks hat insbesondere das Judikat vom 22.9.2009 zu so...