Rz. 59
Zitat
SGB VII §§ 104 ff., 110 Abs. 1 und 2; SGB X § 116 Abs. 6
Orientierungssatz juris:
1. Es ist grob fahrlässig, wenn ein Vater/Landwirt sein 8 ½-jähriges Kind auf der vorderen Zinke eines Gabelstaplers mitfahren lässt.
2. Bei einem Anspruch nach § 110 Abs. 1 SGB VII handelt es sich anders als beim Forderungsübergang nach § 116 Abs. 6 SGB X um einen originären Anspruch des Sozialversicherungsträgers, der der Höhe nach an die fiktive zivilrechtliche Haftung gegenüber dem Geschädigten angeglichen wird. Eine analoge Anwendung des § 116 Abs. 6 SGB X kommt mangels Regelungslücke nicht in Betracht. Vielmehr muss der Sozialversicherungsträger die familiäre Beziehung zwischen Schädiger und Geschädigten im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 110 Abs. 2 SGB VII berücksichtigen.
3. Kommt eine Haftpflichtversicherung des Schädigers für den Schaden auf, liegt kein Ermessensfehlgebrauch des Sozialversicherungsträgers vor, wenn er trotz der familiären Beziehung zwischen Schädiger und Geschädigten Regressansprüche geltend macht.
a) Der Fall
Rz. 60
Die Klägerin nahm den Beklagten aus § 110 SGB VII auf Ersatz von Aufwendungen, die sie für den Sohn des Beklagten … [A] aus Anlass des Arbeitsunfalls vom 10.3.2010 erbracht hatte und noch erbringen wird, in Anspruch. Der Beklagte hatte sein 8 ½-jähriges in der Landwirtschaft mithelfendes Kind auf der vorderen Zinke eines Gabelstaplers mitfahren lassen. Auf unebenem Teerbelag rutschte der Sohn des Beklagten von der Ladegabel herunter und geriet unter das linke Vorderrad.
Rz. 61
Das LG hat die Klage abgewiesen. Es ging davon aus, dass die Klägerin im Rahmen ihrer Entscheidungsfindung, ob sie den Beklagten auf Regress in Anspruch nimmt, das Angehörigenprivileg des § 116 Abs. 6 SGB X nicht ausreichend berücksichtigt hatte. Ein Zusammentreffen der Privilegierungstatbestände der §§ 104 Abs. 1 SGB VII, 116 Abs. 6 SGB X dürfe nicht zu einer Schlechterstellung des Beklagten führen.
Die zulässige Berufung der Klägerin hatte Erfolg. Die Klägerin kann von dem Beklagten gemäß § 110 SGB VII Aufwendungsersatz für von ihr erbrachte Leistungen an den Versicherten … [A] verlangen.
b) Die rechtliche Beurteilung
Rz. 62
Die Voraussetzungen des § 110 Abs. 1 SGB VII lagen nach Auffassung des Berufungsgerichts vor:
Der Unfall des Sohnes des Beklagten am 10.3.2010 ist als Arbeitsunfall anerkannt; die Haftung des Beklagten für Personenschäden aus dem Unfall ist gemäß § 104 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossen. Er hat den Versicherungsfall unstreitig nicht vorsätzlich herbeigeführt. Ein Forderungsübergang auf die Klägerin gemäß § 116 SGB X findet nicht statt.
Rz. 63
Der Beklagte hat den Unfall grob fahrlässig verschuldet. Er hat seinen zum Unfallzeitpunkt ca. 8 ½-jährigen Sohn auf der vorderen linken Zinke des Gabelstaplers mitfahren lassen. Auf unebenem Teerbelag rutschte der Sohn des Beklagten von der Ladegabel herunter und geriet unter das linke Vorderrad. Dabei wurde er erheblich verletzt. Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Diese Sorgfalt muss in ungewöhnlich hohem Maß verletzt worden und es muss dasjenige unbeachtet geblieben sein, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen (BGH, Urt. v. 18.2.2014 – VI ZR 51/13 –, juris; BGH NJW 1988, 1265 ff.). Der Sohn des Beklagten war mit 8 ½ Jahren nicht in der Lage, auf der Ladegabel sicheren Stand zu finden und sich festzuhalten. Die Ladegabel ist offenkundig kein geeigneter Ort, um Personen auf einem Gabelstapler zu transportieren. Der Beklagte hat damit gegen die von der Klägerin in der Klageschrift zitierten Unfallverhütungsvorschriften (§ 29 Abs. 2 und Abs. 7 der Unfallverhütungsvorschrift VSG 3.1 der Klägerin) verstoßen. Danach dürfen Beifahrer und Mitfahrer nur auf sicheren und für den Transport ausgerüsteten Plätzen transportiert werden, nicht aber z.B. auf der Ladefläche des Fahrzeugs. Der Beklagte erklärt den Verstoß gegen die Unfallverhütungsvorschriften damit, sein Sohn habe den Wunsch geäußert, auf der Gabel mitfahren zu dürfen und er habe ihm diesen Wunsch nicht abschlagen wollen, weil er überzeugt gewesen sei, durch vorsichtige Fahrweise jegliche Gefahr für den Jungen vermeiden zu können. Das vermag den Beklagten nicht zu entlasten. Zwischen der Brennerei und der Tresterlagerstelle lag ein Weg von mehreren hundert Metern, der zudem Unebenheiten aufwies. Auch wenn der Beklagte nur mit einer Geschwindigkeit um 10 km/h fuhr, setzte er seinen Sohn mit dem Transport auf der Ladegabel einer erheblichen Gefahr, die er nicht beherrschen konnte, aus. Ein 8 ½-jähriger Junge kann die Gefahren noch nicht vollständig einschätzen. All das musste der Beklagte erkennen und berücksichtigen. Wenn er dies nicht tat, liegt darin eine subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung, die das in § 276 Abs. 2 BGB bestimmte Maß erheblich überschritten hat.
Rz. 64
Nach § 110 Abs. 1 SGB VII ist die Haftung des Unternehmers b...