Rz. 24
Einen Sonderfall der Weiterbeschäftigung normiert § 102 Abs. 5 BetrVG (siehe § 13 Rdn 3 ff.). Danach ist der Arbeitgeber verpflichtet, den ordentlich gekündigten Arbeitnehmer nach Ablauf der Kündigungsfrist bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits zu unveränderten Bedingungen unter folgenden Voraussetzungen weiter zu beschäftigen:
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fristgerechter und ordnungsgemäßer Widerspruch des Betriebsrats nach § 102 Abs. 3 BetrVG, |
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rechtzeitig erhobene Kündigungsschutzklage, |
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Weiterbeschäftigungsverlangen des Arbeitnehmers. |
Rz. 25
Der betriebsverfassungsrechtliche Weiterbeschäftigungsanspruch kann im Wege einstweiliger Verfügung geltend gemacht und durchgesetzt werden. Für den Verfügungsanspruch muss der Arbeitnehmer die Voraussetzungen des § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG darlegen und glaubhaft machen.
Rz. 26
Umstritten ist, ob die Leistungsverfügung darüber hinaus einen besonderen Verfügungsgrund erfordert. Überwiegend wird angenommen, das besondere Sicherungsinteresse des Arbeitnehmers ergebe sich bereits aus der Rechtsnatur des Weiterbeschäftigungsverhältnisses mit der Folge, dass der drohende Zeitablauf als Verfügungsgrund genüge. Dieser Ansicht wird mit der Begründung widersprochen, aus § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG folge nicht, dass an die Voraussetzungen einer einstweiligen Verfügung geringere Anforderungen als sonst zu stellen seien. So wird der Verfügungsgrund in einem drohenden Verlust des Arbeitsplatzes gesehen, den der Arbeitgeber mit einem anderen Arbeitnehmer zu besetzen beabsichtigt.
Rz. 27
Der in Rspr. und Literatur überwiegend vertretenen Auffassung, wonach es im Rahmen des § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG eines besonderen Verfügungsgrundes nicht bedarf, ist zu folgen. Der hier normierte Weiterbeschäftigungsanspruch stellt der Sache nach bereits eine Regelung des vorläufigen Rechtsschutzes in Bezug auf das gekündigte Arbeitsverhältnis dar und nimmt eine Abwägung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen vor. Nach der Wertung des Gesetzes gebührt unter den Voraussetzungen des § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG dem Beschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers für die Dauer des Kündigungsschutzverfahrens der Vorrang. Mit dieser Zweckbestimmung lässt es sich schwerlich vereinbaren, neben dem drohenden Rechtsverlust durch Zeitablauf zusätzlich ein besonderes Sicherungsinteresse des Arbeitnehmers als Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Verfügung zu verlangen.
Rz. 28
Allerdings kann sich der Arbeitgeber gem. § 102 Abs. 5 S. 2 BetrVG durch einstweilige Verfügung von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung nach Satz 1 entbinden lassen, wenn er glaubhaft macht, dass
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die Kündigungsschutzklage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg biete oder mutwillig erscheine, |
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die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers zu einer unzumutbaren wirtschaftlichen Belastung des Arbeitgebers führe oder |
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der Widerspruch des Betriebsrats nach § 102 Abs. 3 BetrVG offensichtlich unbegründet gewesen sei. |
Rz. 29
Die Befreiungstatbestände des § 102 Abs. 5 S. 2 Nr. 1–3 BetrVG sind abschließend geregelt. Der Arbeitgeber braucht darüber hinaus keinen Verfügungsgrund nach §§ 935, 940 ZPO glaubhaft zu machen.
Der Anspruch auf Entbindung kann auch dem Verfügungsantrag des Arbeitnehmers entgegengehalten werden. Der Arbeitgeber ist nicht darauf angewiesen, ein selbstständiges Verfügungsverfahren einzuleiten. Wenn er geltend macht, dass die Voraussetzungen des § 102 Abs. 5 S. 2 BetrVG erfüllt sind und seine Entbindung von der Beschäftigungspflicht rechtfertigen, muss der Verfügungsantrag des Arbeitnehmers auf Weiterbeschäftigung zurückgewiesen werden. Jedenfalls kann der Arbeitgeber in dem von dem Arbeitnehmer eingeleiteten Verfügungsverfahren selbst den Antrag stellen, ihn im Wege einstweiliger Verfügung von der Weiterbeschäftigungspflicht zu entbinden.