Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 877
Die Anzeige von Massenentlassungen i.S.d. § 17 Abs. 1 KSchG ist schriftlich der zuständigen Agentur für Arbeit (vgl. Rdn 867) zu erstatten. Auch wenn es in der Literatur teilweise verteten und von einigen Agenturen für Arbeit auch gelebt wird, dass sowohl ein Telefax als auch eine in Textform übermittelte Anzeige dem Formerfordernis genügt (BeckOK-ArbR/Volkening, § 17 KSchG Rn 41), ist es bis zu einer Entscheidung des BAG ratsam, das von der Arbeitsagentur bereitgestellte Formular "Entlassungsanzeige gem. § 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG)" zu verwenden (ErfK/Kiel, § 17 KSchG Rn 28). Die Stellungnahme des Betriebsrates zu den Entlassungen ist beizufügen, § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG. Geschieht dies nicht, ist die Anzeige unwirksam. Allerdings können zur ordnungsgemäßen Erstattung der Massenentlassungsanzeige erforderliche Angaben wie etwa die Stellungnahme des Betriebsrats auch nachgereicht werden (BAG v. 21.5.2008 – 8 AZR 84/07, NZA 2008, 753 = DB 2009, 293). Eine vor vollständig eingereichter Massenentlassungsanzeige ausgesprochene Kündigung ist jedoch unwirksam (BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, BB 2012, 2567).
Rz. 878
Eine nicht ordnungsgemäß erstattete Massenentlassungsanzeige wird nach der durch die Entscheidung des BAG v. 28.6.2012 (BB 2012, 2567) erfolgten Änderung der Rspr. auch nicht (mehr) durch den rechtskräftigen Bescheid der Arbeitsagentur für Arbeit gem. § 20 KSchG geheilt. Die Bindungswirkung des Bescheids der Arbeitsverwaltung nach § 20 KSchG umfasst nur den eigentlichen Inhalt des Bescheids, also die Dauer der Sperrfrist und den Zeitpunkt ihres Ablaufs. Einen weitergehenden Inhalt hat der Bescheid nicht. Außerdem würde den Arbeitnehmern der durch die Massenentlassungsrichtlinie und § 17 KSchG bestehende individuelle Kündigungsschutz bei einer Bindung der Arbeitsgerichte an den rechtskräftigen Bescheid der Arbeitsagentur entzogen (BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, BB 2012, 2567).
Rz. 879
Die Anzeige über Massenentlassungen muss nach § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG folgende Angaben enthalten:
Rz. 880
Checkliste: Anzeige einer Massenentlassung
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Name des Arbeitgebers |
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Sitz des Betriebs |
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Art des Betriebs |
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Gründe für die geplanten Entlassungen |
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Zahl und Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer |
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Zahl und Berufsgruppen der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer |
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Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen |
▪ |
vorgesehene Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer |
Rz. 881
Über diese zwingend vorgeschriebenen Angaben hinaus sollen nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG im Einvernehmen mit dem Betriebsrat für die Arbeitsvermittlung folgende weitere Angaben gemacht werden:
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Geschlecht, |
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Alter, |
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Beruf und |
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Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer. |
Rz. 882
Die Nichteinhaltung dieser Soll-Vorschrift ist für die Wirksamkeit der Massenentlassungsanzeige unerheblich (BAG v. 19.5.2022, NJW 2022, 2635). Der Arbeitgeber hat dem Betriebsrat eine Abschrift seiner Anzeige an die Agentur für Arbeit zuzuleiten. Der Betriebsrat kann ggü. der Agentur für Arbeit weitere Stellungnahmen abgeben, von denen er wiederum dem Arbeitgeber Abschriften zu erteilen hat, § 17 Abs. 3 S. 6 bis 8 KSchG.
Rz. 883
Hinweis
Sinnvoll ist es, bei beabsichtigten Massenentlassungen die bei der Agentur für Arbeit für das Anzeigeverfahren vorhandenen Vordrucke anzufordern und zu verwenden, damit nicht der Fall eintritt, dass wegen des Übersehens einer Formalvorschrift die Anzeige unwirksam ist. Die Vordrucke können auch aus dem Internet heruntergeladen werden unter www.arbeitsagentur.de.
Rz. 884
Mit zunehmender Verflechtung der Unternehmen sind Fälle zu verzeichnen, in denen die Entscheidungen über Massenentlassungen an einer von dem sie durchführenden Betrieb weit entfernten Stelle getroffen werden. Dies hat den Gesetzgeber dazu veranlasst, mit dem schon erwähnten Gesetz zur Anpassung arbeitsrechtlicher Bestimmungen an das EG-Recht folgenden Abs. 3a in § 17 KSchG einzufügen:
Die Auskunfts-, Beratungs- und Anzeigepflichten nach den Absätzen 1 bis 3 gelten auch dann, wenn die Entscheidung über die Entlassungen von einem den Arbeitgeber beherrschenden Unternehmen getroffen wurde. Der Arbeitgeber kann sich nicht darauf berufen, dass das für die Entlassungen verantwortliche Unternehmen die notwendigen Auskünfte nicht übermittelt hat.
Rz. 885
In seinem Urt. v. 10.9.2009 (NZA 2009, 1082) hat der EuGH zur Information und Konsultation vor Massenentlassungen in einem Konzernbetrieb Stellung genommen und entschieden, Art. 2 Abs. 1 MERL sei dahin auszulegen, dass innerhalb eines Konzerns der Erlass von strategischen Entscheidungen oder Änderungen der Geschäftstätigkeit, die den Arbeitgeber zwingen, Massenentlassungen ins Auge zu fassen oder zu planen, bei diesem Arbeitgeber die Pflicht zur Konsultation der Arbeitnehmervertreter entstehen lässt, selbst wenn er noch nicht in der Lage ist, bereits alle Auskünfte gem. Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. B) MERL zu gewähren. Bestehen mehrere Tochtergesellschaften, entstehe die Ko...