Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 38
Kündigt der Arbeitgeber kurz vor Ablauf der sechsmonatigen Wartezeit allein zu dem Zweck, das Inkrafttreten des Kündigungsschutzes treuwidrig zu vereiteln, kann ausnahmsweise in entsprechender Anwendung des § 162 BGB der allgemeine Kündigungsschutz auch schon vor Ablauf der sechsmonatigen Wartezeit eingreifen. Zu berücksichtigen bleibt aber, dass nach dem Wortlaut sowie nach Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung des § 1 Abs. 1 KSchG der Arbeitgeber während der gesamten Wartefrist frei kündigen kann.
Rz. 39
Somit kann nicht schon jede kurz vor Erfüllung der Wartezeit ausgesprochene Kündigung als treuwidrige Vereitelung des Eintrittes des Kündigungsschutzes angesehen werden. Der Rechtsgedanke des § 162 BGB greift nicht schon dann ein, wenn der Arbeitgeber bereits während der Wartezeit kündigt, obwohl dies zur Wahrung der nach Gesetz oder Vertrag zu beachtenden Kündigungsfrist nicht erforderlich gewesen wäre. Eine analoge Anwendung des § 162 BGB kommt erst dann in Betracht, wenn der Arbeitgeber die Kündigung nur deshalb vor Ablauf der sechsmonatigen Wartefrist erklärt, weil er den Eintritt des Kündigungsschutzes verhindern will, und wenn dieses Vorgehen unter Berücksichtigung der im Einzelfall gegebenen Umstände gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstößt (BAG v. 20.9.1957 – 1 AZR 136/56, NJW 1958, 37; BAG v. 28.9.1978 – 2 AZR 2/77, NJW 1979, 2421). Kündigt der Arbeitgeber kurz vor Ablauf der Wartefrist, um z.B. einen Rechtsstreit über die etwaige Sozialwidrigkeit der Kündigung zu vermeiden, liegt hierin jedoch noch kein Verstoß gegen Treu und Glauben, der Arbeitgeber übt lediglich die ihm gem. § 1 Abs. 1 KSchG eingeräumte Kündigungsfreiheit aus (BAG v. 18.8.1982 – 7 AZR 437/80, BB 1983, 251 = DB 1983, 288).
Rz. 40
Um eine kurz vor Ablauf der Wartefrist ausgesprochene Kündigung als treuwidrig erscheinen zu lassen, müssen daher weitere Umstände hinzutreten. Der Arbeitnehmer, dem vor der Erfüllung der sechsmonatigen Wartezeit (§ 1 Abs. 1 KSchG) gekündigt wird, kann den allgemeinen Kündigungsschutz nach alledem nur ganz ausnahmsweise in Anspruch nehmen, wenn durch die Kündigung der Eintritt des allgemeinen Kündigungsschutzes entgegen dem Grundsatz von Treu und Glauben vereitelt werden soll. § 162 BGB setzt nicht nur eine den Bedingungseintritt verhindernde Beeinflussung des Kausalverlaufes durch den Vertragspartner voraus, sondern zusätzlich die Treuwidrigkeit dieser Beeinflussung (BAG v. 16.3.2000 – 2 AZR 828/98, BB 2000, 1792 = DB 2000, 1871 = NZA 2000, 1337). I.Ü. treten die Folgen des § 162 BGB dann nicht ein, wenn der Arbeitgeber aus einem sachlichen Grund kündigt, der nicht notwendig den Anforderungen an eine sozial gerechtfertigte Kündigung (§ 1 Abs. 2 und Abs. 3 KSchG) genügen muss (BAG v. 18.8.1982 – 7 AZR 437/80, BB 1983, 251 = DB 1983, 288).
Rz. 41
So ist während der Wartezeit z.B. eine Kündigung wegen unentschuldigten Fehlens ohne vorausgegangene Abmahnung möglich. Eine vorherige, vergebliche Abmahnung ist bei einer Kündigung des Arbeitgebers nämlich dann entbehrlich, wenn das Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers in demselben Betrieb oder Unternehmen noch keine sechs Monate bestanden hat, also die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG noch nicht erfüllt ist (LAG Hamm v. 19.1.1988 – 7 Sa 1595/87, NZA 1988, 554). Solange noch kein allgemeiner Kündigungsschutz besteht, weiß der Arbeitnehmer, dass der Bestand des Arbeitsverhältnisses nicht gesichert ist. Er kann bis zum letzten Tag der Wartezeit mit einer Kündigung auch ohne vorherige Abmahnung rechnen. Die Frage, ob eine Abmahnung einer Kündigung vorauszugehen hat, gehört in den Bereich der sozialen Rechtfertigung i.S.d. KSchG und nicht zu den formellen Voraussetzungen einer Kündigung.