Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 937
Nach dem Ablauf der Probezeit kann das Berufsausbildungsverhältnis vom Ausbildenden nur noch aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist außerordentlich gekündigt werden. Die ordentliche Kündigung ist dann ausgeschlossen (§ 22 Abs. 2 Nr. 1 BBiG).
Rz. 938
Die außerordentliche Kündigung hat schriftlich zu erfolgen und muss unter Angabe der Kündigungsgründe erfolgen, § 22 Abs. 3 BBiG. Die Angabe der Kündigungsgründe im Kündigungsschreiben ist Wirksamkeitsvoraussetzung für die außerordentliche Kündigung eines Berufsausbildungsvertrages. Fehlt es daran, ist die Kündigung nichtig. Der Kündigende muss in dem Kündigungsschreiben die Tatsachen mitteilen, die für die Kündigung maßgebend sind. Werturteile wie "mangelhaftes Benehmen" oder "Störung des Betriebsfriedens" genügen nicht. Bei solchen Bezeichnungen der Kündigungsgründe ist die Kündigung nichtig. Das BAG lässt eine Verdachtskündigung auch im Ausbildungsverhältnis zu: Der dringende Verdacht einer schweren Pflichtverletzung kann die außerordentliche Kündigung eines Ausbildungsverhältnisses rechtfertigen (BAG v. 12.2. 2015 – 6 AZR 845/13).
Der Kündigende kann die kündigungsbegründenden Umstände, die er im Kündigungsschreiben nicht selbst aufgeführt hat, im nachfolgenden Kündigungsschutzprozess selbst dann nicht mit prozessualer Wirkung geltend machen, wenn diese Umstände bereits vor Ausspruch der Kündigung entstanden waren, dem Kündigenden aber erst nach Ausspruch der Kündigung bekannt geworden sind (LAG Baden-Württemberg v. 5.1.1990 – 1 Sa 23/89, DB 1990, 588).
Rz. 939
Ist der Auszubildende minderjährig, kann der Ausbildende eine außerordentliche Kündigung grds. nur ggü. dem gesetzlichen Vertreter des Minderjährigen wirksam erklären. Diesem sind auch die Tatsachen mitzuteilen, die die Kündigung begründen sollen. Es reicht nicht aus, wenn dem Minderjährigen selbst die Kündigungsgründe bekannt gegeben werden (BAG v. 25.11.1976 – 2 AZR 751/75, DB 1977, 868).
Rz. 940
Der wichtige Grund des § 22 Abs. 2 Nr. 1 BBiG ist unter Berücksichtigung der Zwecksetzung des Berufsausbildungsverhältnisses festzustellen. Deshalb können die zu § 626 BGB für allgemeine Arbeitsverhältnisse geltenden Grundsätze nicht unbesehen übernommen werden. Dennoch wird auch in Anlehnung an § 626 Abs. 1 BGB neben der Feststellung eines wichtigen Grundes eine umfassende Interessenabwägung stattzufinden haben. Hierbei ist insb. zu berücksichtigen, wie lange das Ausbildungsverhältnis bestanden hat. Je länger dies der Fall war bzw. je kürzer die Abschlussprüfung bevorsteht, umso strengere Anforderungen sind an den wichtigen Grund für die Kündigung durch den Ausbildenden zu stellen (BAG v. 10.5.1973 – 2 AZR 328/72, DB 1973, 1512). Im Vordergrund der Prognose eines verständigen Ausbildenden hat dabei die Erreichung des Ausbildungsziels zu stehen. Liegen allerdings solche Verhaltensweisen wie z.B. Straftaten gegen den Arbeitgeber vor, die im Hinblick auf die vorgenannte Zwecksetzung es unmöglich erscheinen lassen, dass die Ausbildung erfolgreich absolviert werden wird, ist eine außerordentliche Kündigung gerechtfertigt. Auch ausländerfeindliche, insb. rassistische Beschimpfungen und Verlautbarungen innerhalb des Betriebes rechtfertigen ohne weiteres die außerordentliche Kündigung des Ausbildungsvertrages. Einer vorherigen Abmahnung vor Ausspruch der außerordentlichen Kündigung bedarf es unter diesen Umständen nicht (LAG Berlin v. 22.10.1997 – 13 Sa 110/97, AuR 1998, 375). Auch im Ausbildungsverhältnis bedarf es bei besonders schwerwiegenden Pflichtverletzungen, deren Rechtswidrigkeit dem Auszubildenden ohne weiteres erkennbar und bei denen eine Hinnahme durch den Ausbildenden offensichtlich ausgeschlossen ist, vor dem Ausspruch der außerordentlichen Kündigung keiner Abmahnung (BAG v. 1.7.1999 – 2 AZR 676/98, EzA § 15 BBiG Nr. 13).
Rz. 941
Die außerordentliche Kündigung eines schwerbehinderten Auszubildenden bedarf der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes, § 85 SGB IX (BAG v. 10.12.1987 – 2 AZR 385/87, NZA 1988, 428). Insgesamt haben nämlich auch Auszubildende Sonderkündigungsschutz. So werden schwangere Auszubildende durch § 17 MuSchG, erziehende Auszubildende durch § 18 BEEG, anerkannt schwerbehinderte Auszubildende durch § 168 SGB IX und Wahlinitiatoren, Wahlbewerber, Wahlvorstandsmitglieder oder JAV- und Betriebsratsmitglieder durch § 15 KSchG geschützt. Alle diese Normen gelten auch für Berufsausbildungsverhältnisse (ErfK/Schlachter, § 22 BBiG, Rn 1). Gleiches gilt für den Sonderkündigungsschutz wegen einer beantragten Pflegezeit, der sogar in der Probezeit wirksam wird (ErfK/Gallner, § 5 PflZG, Rn 1).
Rz. 942
Hinsichtlich der Kündigungserklärungsfrist ist auf § 22 Abs. 4 BBiG zu achten. Dabei ist im Hinblick auf den Lauf der Frist entscheidend, ob ein Schlichtungsverfahren gem. § 111 Abs. 2 ArbGG eingeleitet werden muss oder nicht. Besteht ein solcher Schlichtungsausschuss nicht, so ist die Kündigung unwirksam, wenn dem Kündigenden die ihr zugrunde liegenden Tatsachen länger als ...