Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 894
In § 18 Abs. 4 KSchG heißt es: "Soweit die Entlassungen nicht innerhalb von 90 Tagen nach dem Zeitpunkt, zu dem sie nach den Absätzen 1 und 2 zulässig sind, durchgeführt werden, bedarf es unter den Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 einer erneuten Anzeige." Bei richtlinienkonformer Auslegung des Entlassungsbegriffs entsprechend der Entscheidung des EuGH v. 27.1.2005 (C 188/03, NZA 2005, 213 = DB 2005, 453) und der neueren BAG-Rspr. (vgl. Nachweise unter Rdn 848 f.) stellte sich die Frage einer sinnvollen Anwendung dieser Norm (vgl. Ascheid/Preis/Schmidt/Moll, § 18 KSchG Rn 38). Bei Kündigungsfristen, die die Dauer von Entlassungssperre und Freifrist übersteigen, ist deshalb keine erneute Anzeige bei der Agentur für Arbeit erforderlich. Nach Ablauf der Freifrist muss der Arbeitgeber jedoch eine erneute Anzeige erstatten, wenn er bis dahin von der Möglichkeit des Ausspruchs der Kündigung keinen Gebrauch gemacht hat (ErfK/Kiel, § 18 KSchG Rn 7).
Rz. 895
Das BAG hatte die Frage offengelassen, ob die Freifristregelung noch anwendbar ist (BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 935/07, DB 2009, 515). Im Urt. v. 23.2.2010 (NZA 2010, 944 = DB 2010, 1647) stellt das BAG zunächst im Leitsatz ebenfalls klar, dass es keiner erneuten Anzeige bedarf, wenn das Arbeitsverhältnis wegen einer langen Kündigungsfrist erst nach Ablauf der Freifrist endet. Darüber hinaus vertritt das BAG nunmehr die Auffassung, dass auch nach dem Bedeutungswandel des Entlassungsbegriffs für § 18 Abs. 4 KSchG ein zum System der §§ 17 ff. KSchG gut passender Anwendungsbereich bleibt. Der Arbeitgeber müsse nämlich nach Ablauf der Freifrist dann eine erneute Anzeige erstatten, wenn er von der Möglichkeit des Ausspruchs der Kündigung bis dahin keinen Gebrauch gemacht hat. Auf diese Weise würden letztlich "Vorratsanzeigen" verhindert, die dem Gesetzeszweck zuwiderliefen.
Rz. 896
Ist nach ordnungsgemäßer Massenentlassungsanzeige das Arbeitsverhältnis gekündigt worden, so kann eine weitere Kündigung in der Freifrist, etwa mit der kürzeren Frist gem. § 113 S. 2 InsO durch den Insolvenzverwalter, nicht auf dieselbe Massenentlassungsanzeige gestützt werden, weil die Kündigungsmöglichkeit verbraucht ist (BAG v. 22.4.2010 – 6 AZR 948/08, NZA 2010, 1057 = DB 2010, 1763). Die Nachkündigung auf der Grundlage des § 113 InsO ist, sofern die Voraussetzungen einer Massenentlassung vorliegen, vielmehr erneut dem Verfahren nach §§ 17, 18 KSchG unterworfen.