Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 754
Der Arbeitgeber hat bei der Sozialauswahl zudem die Unterhaltspflichten der Arbeitnehmer zu berücksichtigen. Hierunter sind die gesetzlichen Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers aus den §§ 1360 ff. BGB (Ehegatten), §§ 1569 ff. BGB (geschiedene Ehegatten), §§ 1601 BGB ff. (eheliche Kinder und unterhaltsbedürftige Eltern), § 1615a (nicht ehehliche Kinder), § 1754 (adoptierte Kinder), §§ 5, 12, 16 LPartG (eingetragene gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft, auch nach Trennung und Aufhebung) zu verstehen.
Rz. 755
Eine Beschränkung der Unterhaltspflichten auf inländische Unterhaltspflichten ist mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar (LAG Nds. v. 12.12.2003, NZA-RR 2005, 524, 526; ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rn 333).
Rz. 756
Unterhaltspflichten sind nur beachtlich, wenn sie im Kündigungszeitpunkt tatsächlich bestehen (ArbG Berlin v. 16.2.2005 – 9 Ca 27525/04, BB 2006, 1455; APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 723; ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rn 333).
Rz. 757
Nach teilweiser Literaturansicht kommt es nicht nur auf die Anzahl der Unterhaltsberechtigten an, sondern auf die Höhe der Unterhaltsverpflichtungen (v. Hoyningen-Huene/Linck, § 1 KSchG Rn 943; KR/Griebeling, § 1 KSchG Rn 676). Aber auch nach dieser Ansicht ist es "ausreichend" i.S.v. § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG, wenn der Arbeitgeber die Unterhaltspflichten nur "nach Köpfen" berücksichtigt (v. Hoyningen-Huene/Linck, § 1 KSchG Rn 943).
Rz. 758
Einkommen des Ehepartners bzw. des Partners einer eingetragenen Lebenspartnerschaft nach § 1 Abs. 1 LPartG, sog. Doppelverdienst, darf nach Ansicht der Literatur im Zusammenhang mit der Bewertung von Unterhaltspflichten berücksichtigt werden (APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 724; v. Hoyningen-Huene/Linck, § 1 KSchG Rn 944). Ist der Ehegatte durch ein eigenes Arbeitseinkommen in der Lage, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, vermindert sich die Pflicht des Arbeitnehmers zu tatsächlichen Unterhaltsleistungen nach den §§ 1360, 1360a BGB (BAG v. 8.8.1985, AP Nr. 10 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl; BAG v. 5.12.2002, AP Nr. 59 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl).
Rz. 759
Allerdings ist der Arbeitgeber nach Ansicht des BAG jedoch nicht verpflichtet, den Doppelverdienst zulasten des Arbeitnehmers zu berücksichtigen (BAG v. 5.12.2002, AP Nr. 59 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl). Abzustellen ist diesbezüglich auf Art. 6 Abs. 1 GG. Es wäre mit der Wertentscheidung des GG unvereinbar, § 1 Abs. 3 KSchG dahin gehend auszulegen, dass der Arbeitgeber im Ergebnis verpflichtet würde, einem verheirateten Arbeitnehmer nur wegen seiner familiären Bindung zu kündigen. Dies wäre aber bei der Berücksichtigung des Doppelverdienstes häufig der Fall, da das Lohnniveau von Frauen statistisch gesehen erheblich unter dem der Männer liegt. Damit könnten verheiratete Frauen als weniger schutzwürdig angesehen werden (vgl. v. Hoyningen-Huene/Linck, § 1 KSchG Rn 944) und es käme so zu einer mittelbaren Diskriminierung erwerbstätiger Frauen (APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 724).
Rz. 760
Umstritten ist, ob der Arbeitgeber die für die Sozialauswahl erforderlichen Informationen hinsichtlich der Unterhaltspflichten der Lohnsteuerkarte des Arbeitnehmers entnehmen darf (so ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rn 333) oder ob er die Arbeitnehmer zu befragen hat (so teilweise die Rspr., vgl. LAG Rheinland-Pfalz v. 12.7.2006, NZA-RR 2007, 247 f.; vgl. auch Rdn 773).