Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 1130
Der besondere Kündigungsschutz des schwerbehinderten Menschen tritt neben die sonstigen kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften anderer Gesetze. Es kann daneben das KSchG, das mutterschutzrechtliche Kündigungsverbot des § 17 Abs. 1 MuSchG sowie der besondere Kündigungsschutz für betriebsverfassungsrechtliche und personalvertretungsrechtliche Mandatsträger eingreifen. Darüber hinaus ist vor der Kündigung eines schwerbehinderten Menschen der Betriebsrat gem. § 102 BetrVG oder das entsprechende personalvertretungsrechtliche Beteiligungsgremium anzuhören. Der Arbeitgeber kann das betriebsverfassungs- oder personalvertretungsrechtliche Anhörungsverfahren zu einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung eines schwerbehinderten auch nach dem Ende des Zustimmungsverfahrens oder nach dem Eintritt der Zustimmungsfiktion einleiten. In diesem Fall muss der Arbeitgeber jedoch, soweit keine besonderen Hinderungsgründe entgegenstehen, sofort nach Bekanntgabe der Zustimmungsentscheidung oder nach Ablauf der Zwei-Wochen-Frist das betriebsverfassungs- oder personalvertretungsrechtliche Anhörungsverfahren einleiten und sofort nach Eingang der Stellungnahme des Betriebs- oder Personalrates oder nach Ablauf der Drei-Tage-Frist die Kündigung erklären (BAG v. 3.7.1980 – 2 AZR 340/78, DB 1981, 103). Ist das entsprechende Anhörungsverfahren durchgeführt, ist es unschädlich, wenn die Zustimmung der Hauptfürsorgestelle erst nach einem jahrelangen Verwaltungsstreitverfahren erteilt wird (BAG v. 18.5.1994 – 2 AZR 626/93, DB 1995, 532).
Rz. 1131
Rechtzeitig vor der Stellung des Antrages auf Zustimmung zur Kündigung ist die Schwerbehindertenvertretung umfassend zu unterrichten und zu hören und ihr die getroffene Entscheidung unverzüglich mitzuteilen (§ 178 Abs. 2 S. 1 SGB IX). Die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung nach § 178 Abs. 2 S. 1 SGB IX ist vor der Entscheidung des Arbeitgebers, ob er dem schwerbehinderten Menschen kündigen und die dazu erforderliche Zustimmung des Integrationsamtes einholen will, notwendig, nicht erst nach Einholung der Zustimmung dieses Amtes vor Ausspruch der Kündigung in der Frist des § 174 Abs. 2 SGB IX. Versäumt der Arbeitgeber dies und stellt den Antrag bei dem Integrationsamt ohne die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung, hat das Integrationsamt die Durchführung des Kündigungszustimmungsverfahrens auszusetzen, bis der Arbeitgeber die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung nachgeholt hat (§ 178 Abs. 2 S. 2 SGB IX).
Rz. 1132
Das Nebeneinander verschiedener Kündigungsschutznormen und -verfahren bedeutet für den Arbeitnehmer, dass er zur Einhaltung der jeweils vorgeschriebenen Verfahren und Fristen gezwungen ist. Will der Arbeitnehmer geltend machen, dass die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist, hat er innerhalb der Frist des § 4 KSchG innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung Kündigungsschutzklage zu erheben. Die Klage, mit der die Nichteinhaltung des Zustimmungserfordernisses gerügt wird, ist auch an die Frist des § 4 KSchG gebunden. Zu beachten ist aber auch die Sonderregelung des § 4 S. 4 KSchG, die eine Fristenregelung für den Fall trifft, dass der Zugang der Kündigung und der Zeitpunkt des Zuganges der Zustimmungsentscheidung des Integrationsamtes auseinanderfallen. Kündigt der Arbeitgeber einem schwerbehinderten Arbeitnehmer in Kenntnis von dessen Schwerbehinderteneigenschaft, kann dieser das Fehlen der nach § 168 SGB IX erforderlichen Zustimmung des Integrationsamtes bis zur Grenze der Verwirkung jederzeit geltend machen, wenn ihm eine entsprechende Entscheidung der zuständigen Behörde nicht bekannt gegeben worden ist. Da die Kündigung der Zustimmung einer Behörde bedarf, läuft nach § 4 S. 4 KSchG die Frist zur Anrufung des ArbG erst von der Bekanntgabe der Entscheidung der Behörde an den Arbeitnehmer an (BAG v. 13.2.2008 – 2 AZR 864/06, NZA 2008, 1055). Hat der Arbeitgeber hingegen bei Ausspruch der Kündigung keine Kenntnis und hat er die Zustimmung des Integrationsamtes folglich auch nicht beantragt, ist, wenn der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber ggü. den Sonderkündigungsschutz nicht innerhalb von 3 Wochen geltend macht, mit Ablauf der Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG der eigentlich gegebene Nichtigkeitsgrund nach § 134 BGB wegen § 7 KSchG geheilt. § 4 S. 4 KSchG kommt hier nicht zur Anwendung. Eine behördliche Entscheidung war insoweit nicht erforderlich, sie konnte dem Arbeitnehmer auch nicht bekannt gegeben werden. Gleiches gilt, wenn der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber seinen Schwerbehindertenstatus bzw. seine Gleichstellung zwar innerhalb von drei Wochen nach der Kündigung mitteilt, ohne allerdings innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung Klage zu erheben. Dann kann sich der Arbeitnehmer zwar auf den Sonderkündigungsschutz berufen. Allerdings muss er zugleich auch die Klagefrist einhalten, wenn zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung dem Arbeitgeber der Sonderkündigungsschutz nicht bekannt war und dieser die Zustimmung nicht beantragen konnte.
Rz. 11...