Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 742
Gem. § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG hat der Arbeitgeber seit dem 1.1.2004 bei der Sozialauswahl die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und eine bestehende Schwerbehinderung des Arbeitnehmers ausreichend zu berücksichtigen. Keinem Kriterium kommt dabei ein absoluter Vorrang zu (BAG v. 2.6.2005, AP Nr. 75 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl; BAG v. 9.11.2006, AP Nr. 87 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl). Nach dem Wortlaut des § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG hat der Arbeitgeber die Kriterien "ausreichend" zu berücksichtigen. Infolgedessen hat er in Zweifelsfällen einen Wertungsspielraum (BAG v. 2.6.2005, AP Nr. 75 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl; BAG v. 9.11.2006, AP Nr. 87 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl). Es ist ausreichend, wenn die Auswahlentscheidung vertretbar ist (BAG v. 2.6.2005, AP Nr. 75 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl). Daher werden Arbeitnehmer eine fehlerhafte Sozialauswahl nur dann erfolgreich geltend machen können, wenn sie deutlich schutzwürdiger sind (BAG v. 2.6.2005, AP Nr. 75 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl).
aa) Dauer der Betriebszugehörigkeit
Rz. 743
Die Dauer der Betriebszugehörigkeit richtet sich nach der Beschäftigung bei demselben Arbeitgeber, auch wenn diese in verschiedenen Betrieben erfolgte (BAG v. 6.2.2003, EzA § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 51; BAG v. 2.6.2005, AP Nr. 75 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl). Somit gelten die für die Berechnung der Wartezeit gem. § 1 Abs. 1 KSchG anwendbaren Grundsätze entsprechend.
Rz. 744
Im Bereich des öffentlichen Dienstes entspricht die gem. § 19 BAT/BAT-O festgesetzte "Beschäftigungszeit" nicht ohne weiteres dem Begriff der Beschäftigungszeit des § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG (BAG v. 6.2.2003, EzA § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 51).
Rz. 745
Frühere Beschäftigungszeiten oder Beschäftigungszeiten bei anderen (Konzern) Unternehmen können berücksichtigt werden, wenn die Arbeitsvertragsparteien dies vereinbart haben (BAG v. 2.6.2005, AP Nr. 75 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl; KR/Griebeling, § 1 KSchG Rn 672). Eine solche Abrede kann sich jedoch zulasten anderer Arbeitnehmer auswirken. Sie darf daher nicht rechtsmissbräuchlich und nicht auf die Umgehung der Sozialauswahl gerichtet sein (v. Hoyningen-Huene/Linck, § 1 KSchG Rn 934). Ein sachlicher Grund für eine derartige Vereinbarung ist aber ohne Weiteres anzunehmen, wenn die Arbeitsvertragsparteien in einem arbeitsgerichtlichen Vergleich wegen eines streitigen Betriebsüberganges vereinbart haben, frühere Beschäftigungszeiten zu berücksichtigen (BAG v. 2.6.2005, AP Nr. 75 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl).
bb) Lebensalter
Rz. 746
Das Lebensalter stellt eine ambivalente Größe dar (BAG v. 21.1.1999 – 2 AZR 624/98, NZA 1999, 866; KR/Griebeling, § 1 KSchG Rn 674; ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rn 332). So hat das BAG bereits 1983 festgestellt, dass die entscheidende Bedeutung, die dem Lebensalter i.R.d. Sozialauswahl früher beigemessen wurde, nur vor dem Hintergrund einer Hochkonjunktur zu verstehen sei. In einer solchen Wirtschaftsphase hätten es regelmäßig nur "im Arbeitsprozess verbrauchte Arbeitnehmer" schwer gehabt, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Das Auswahlkriterium des Lebensalters habe aber durch die Massenarbeitslosigkeit, die auch viele jüngere Arbeitnehmer betreffe, an Bedeutung verloren (BAG v. 24.3.1983, AP Nr. 12 zu § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung).
Rz. 747
Eine Kündigung kann auch für jüngere Arbeitnehmer schwerwiegende Folgen haben, insb. wenn diese aus dem Arbeitseinkommen eine Familie zu versorgen haben und wegen familiärer Bindung nur eingeschränkt örtlich flexibel sind (Schaub/Linck, ArbRHB, § 135 Rn 31). Ältere Arbeitnehmer haben demgegenüber oftmals nur noch einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum bis zum Renteneintritt vor sich und können diesen ggf. durch die Inanspruchnahme von Alg oder die Vereinbarung von Altersteilzeit überbrücken können (vgl. hierzu LAG Nds. v. 28.5.2004, LAGE KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 44a; LAG Nds. v. 23.5.2005, NZA-RR 2005, 584; beachte aber a.A. LAG Düsseldorf v. 13.7.2005, ArbUR 2006, 69 f., wonach es die nach § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG gebotene positive Berücksichtigung der vier Grundkriterien grds. ausschließt, einem Arbeitnehmer wegen "Rentennähe" eine geringere soziale Schutzwürdigkeit aufgrund seines – höheren – Lebensalters zuzugestehen sowie LAG Köln v. 2.2.2006, LAGE KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 51a, wonach es sich nicht mit § 1 Abs. 3 1 KSchG vereinbaren lässt, die "Rentennähe" zulasten des Arbeitnehmers in die Sozialauswahl einzubeziehen).
Rz. 748
Schließlich hat das BAG darauf hingewiesen, dass ein Unterschied des Lebensalters von 10 Jahren in der Altersgruppe der 25- bis 35-Jährigen grds. nicht erheblich sei. Dies gelte namentlich bei Frauen, weil je nach den Umständen und der Einstellung des betreffenden Arbeitgebers die Chancen einer 35-jährigen Arbeitnehmerin am Arbeitsmarkt günstiger zu beurteilen sein könnten als diejenigen einer 25-jährigen Arbeitnehmerin (BAG v. 19.1.1999, NZA 1999, 866). Dem Altersunterschied zwischen 40- und 50-jährigen Arbeitnehmern dürfte tendenziell wiederum mehr Gewicht beizumessen sein (...