Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 771
Nach der Gesetzesbegründung kommt den Kriterien Betriebszugehörigkeit, Lebensalter und Unterhaltspflichten – wie auch schon nach der bis zum 31.12.2003 geltenden Rechtslage – i.R.d. Sozialauswahl weiterhin grds. gleiches Gewicht zu (BT-Drucks 15/1204, 11). Auch das BAG geht davon aus, dass keinem der Auswahlgesichtspunkte ein absoluter Vorrang zukommt (BAG v. 5.12.2002 – 2 AZR 549/01, NZA 2003, 791). Aus dem Umstand, dass in der Gesetzesbegründung lediglich die Kriterien Betriebszugehörigkeit, Lebensalter und Unterhaltspflichten ausdrücklich genannt sind, schließt ein Teil der Literatur, dass demgegenüber dem Merkmal der Schwerbehinderung nur nachrangige Bedeutung beizumessen ist (Schaub/Linck, ArbRHB, § 135 Rn 40). Jedenfalls kommt ihm im Vergleich zu den anderen Merkmalen aber keine herausragende Bedeutung zu (APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 738).
Rz. 772
Der Arbeitgeber hat gem. § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG die sozialen Kriterien "ausreichend" zu berücksichtigen. Damit räumt das Gesetz dem Arbeitgeber einen "gewissen Wertungsspielraum" ein, der mehrere rechtmäßige Entscheidungen vertretbar erscheinen lässt (BAG v. 18.1.1990 – 2 AZR 357/89, NZA 1990, 729). Das BAG hat dargelegt, dass die Auswahlentscheidung nur "vertretbar" sein und nicht unbedingt der Entscheidung entsprechen muss, die das Gericht getroffen hätte, wenn es eigenverantwortlich soziale Erwägungen hätte anstellen müssen (BAG v. 5.12.2002 – 2 AZR 549/01, NZA 2003, 791). Nur der "deutlich schutzwürdigere" Arbeitnehmer könne die Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl mit Erfolg rügen (BAG v. 5.12.2002 – 2 AZR 549/01, NZA 2003, 791).
§ 1 Abs. 3 S. 1 KSchG gestattet es dem Arbeitgeber, ein Punkteschema zu verwenden, auch wenn keine förmliche Vereinbarung i.S.d. § 1 Abs. 4 KSchG vorliegt (BAG v. 5.12.2002, AP Nr. 59 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl). Da der Arbeitgeber neben den in der seit dem 1.1.2004 geltenden Fassung des § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG genannten vier Auswahlkriterien keine weitere Kriterien berücksichtigen muss, braucht ein Punktesystem im Gegensatz zur früheren Rechtslage keine individuelle Abschlussprüfung mehr vorzusehen (BAG v. 9.11.2006, EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 71). Besteht ein Betriebsrat, unterliegt ein Punkteschema als Auswahlrichtlinie allerdings der Mitbestimmung nach § 95 BetrVG, selbst wenn der Arbeitgeber die Auswahlrichtlinie nicht generell auf alle künftigen, sondern nur auf konkrete bevorstehende betriebsbedingte Kündigungen anwenden will (APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 740).