Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 100
Gem. § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG ist eine Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. Eine Kündigung ist zudem sozial ungerechtfertigt, wenn der Betriebs- oder Personalrat aus einem der in § 1 Abs. 2 S. 2 KSchG genannten Gründe der Kündigung fristgerecht widerspricht.
Rz. 101
Bei der Frage, ob eine Kündigung i.S.d. allgemeinen Kündigungsschutzes wirksam ist, sind folgende Prinzipien zu beachten:
1. Interessenabwägung
Rz. 102
I.R.d. Prüfung, ob eine Kündigung i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 2 KSchG sozial gerechtfertigt ist, muss grds. eine umfassende Interessenabwägung erfolgen (BAG v. 20.10.1954 – 1 AZR 193/54, AP Nr. 6 zu § 1 KSchG; Schaub/Linck, ArbRHB, § 130 Rn 30). Dies gilt jedenfalls bei Kündigungen aus personen- und verhaltensbedingten Gründen (BAG v. 17.1.1991 – 2 AZR 375/90, NZA 1991, 557; BAG v. 29.4.1999 – 2 AZR 431/98, NZA 1999, 978). Demgegenüber erfolgt bei der betriebsbedingten Kündigung keine Interessenabwägung. Die betriebsbedingte Kündigung ist sozial gerechtfertigt, wenn es aufgrund dringender betrieblicher Erfordernisse für den gekündigten Arbeitnehmer keine weitere Beschäftigungsmöglichkeit gibt (BAG v. 29.3.1990 – 2 AZR 369/89, NZA 1991, 181). Nach dem Wegfall des Arbeitsplatzes und der fehlenden Möglichkeit, den Arbeitnehmer weiter zu beschäftigen, besteht keine Veranlassung dazu, das Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers mit dem Interesse des Arbeitgebers an einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses abzuwägen (Schaub/Linck, ArbRHB, § 130 Rn 30). Hingegen werden im Zuge der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG die Bestandsschutzinteressen vergleichbarer Arbeitnehmer gegeneinander abgewogen und ermittelt, wer von der Kündigung in sozialer Hinsicht am wenigsten hart getroffen wird.
2. Ultima-Ratio-Prinzip
Rz. 103
Nach dem Ultima-Ratio-Prinzip, welches das gesamte Kündigungsrecht beherrscht, kommt eine Kündigung stets nur als letztes Mittel in Betracht (BAG v. 30.5.1978 – 2 AZR 630/76, DB 1978, 1790). Der Arbeitgeber muss daher in jedem Fall versuchen, die Kündigung durch andere geeignete Maßnahmen abzuwenden (BAG v. 30.11.1989 – 2/AZR 197/89, NZA 1990, 529).
Bei verhaltensbedingten Kündigungen ist wegen des Ultima-Ratio-Prinzips i.d.R. erforderlich, dass der Arbeitnehmer zuvor wegen eines anderen früheren Vertragsverstoßes einschlägig abgemahnt worden ist, damit der Arbeitgeber wegen eines gleichartigen Verhaltens eine verhaltensbedingte Beendigungskündigung aussprechen kann.
Der Arbeitgeber muss stets prüfen, ob er den Arbeitnehmer auf einem anderen freien Arbeitsplatz, ggf. auch zu schlechteren Bedingungen, weiterbeschäftigen kann und dem Arbeitnehmer ggf. einen solchen Arbeitsplatz anbieten. Dabei muss der Arbeitgeber den Arbeitnehmer darauf hinweisen, dass mit dieser Maßnahme – ggf. im Wege einer Änderungskündigung – eine anderenfalls erforderliche Beendigungskündigung vermieden werden soll. Der Arbeitnehmer kann das Angebot vorbehaltlos annehmen und so in die Änderung des Arbeitsvertrages einwilligen. Er kann auch das Änderungsangebot unter dem Vorbehalt annehmen, dass die Änderung nicht sozialwidrig ist. Der Arbeitgeber muss dann eine Änderungskündigung aussprechen, die der Arbeitnehmer ggf. nach Maßgabe der §§ 2 und 4 KSchG auf ihre soziale Rechtfertigung hin überprüfen lassen kann (zur Änderungskündigung vgl. im Einzelnen § 25 Rdn 1 ff.). Lehnt der Arbeitnehmer das Angebot endgültig und vorbehaltlos ab, kann der Arbeitgeber kündigen, ohne dass der Arbeitnehmer ihn im Kündigungsschutzprozess auf die Möglichkeit der Weiterbeschäftigung zu geänderten Bedingungen verweisen kann. Versäumt es der Arbeitgeber, dem Arbeitnehmer eine objektiv mögliche Weiterbeschäftigung zu geänderten Bedingungen anzubieten, die beiden Arbeitsvertragsparteien zumutbar sind, und beruft sich der Arbeitnehmer später im Prozess darauf, ist die Kündigung unwirksam (sog. Vorrang der Änderungskündigung, BAG v. 27.9.1984 – 2 AZR 62/83, DB 1985, 1186). Die Weiterbeschäftigungspflicht auf einem freien Arbeitsplatz ist dabei nicht nur betriebs-, sondern unternehmensbezogen (BAG v. 17.5.1984 – 2 AZR 109/83, NZA 1985, 489).
3. Negative Prognose
Rz. 104
Jede Kündigung setzt prinzipiell eine negative Prognose voraus. Der Arbeitgeber kann das Arbeitsverhältnis nur dann kündigen, wenn ihm wegen der zu erwartenden künftigen Beeinträchtigungen des Arbeitsverhältnisses eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers nicht zumutbar ist (zur krankheitsbedingten Kündigung vgl. BAG v. 7.11.2002 – 2 AZR 599/01, NZA 2003, 816; zur verhaltensbedingten Kündigung vgl. BAG v. 8.6.2000 – 2 AZR 638/99, NZA 2000, 1282; zur betriebsbedingten Kündigung vgl. BAG v. 11.3.1998 – 2 AZR 414/97, NZA 1998, 879).
4. Gleichbehandlungsgrundsatz
Rz. 105
Nach herrschender Meinung findet der Gleichbehandlungsgrundsatz nur bei der Erfüllung von Ansprüchen, nicht aber hinsichtlich der Ausübung von Gestaltungsrechten Anwendung. Im Verhältnis ...