Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 794
Ist in einem Tarifvertrag, in einer Betriebsvereinbarung nach § 95 BetrVG oder in einer entsprechenden Richtlinie nach dem BPersVG festgelegt, wie die sozialen Gesichtspunkte nach § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG im Verhältnis zueinander zu bewerten sind, so kann die Bewertung gem. § 1 Abs. 4 KSchG nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden.
Rz. 795
Die Regelung des § 1 Abs. 4 KSchG gilt auch für Auswahlrichtlinien, die in einem Interessenausgleich enthalten sind (Küttner/Eisemann, Kündigung, betriebsbedingte, Rn 44; APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 776; Stahlhacke/Preis/Vossen, Rn 1158; a.A. LAG Düsseldorf v. 17.3.2000, NZA-RR 2000, 421). Allerdings ist zu beachten, dass solche Auswahlrichtlinien keine normative Wirkung entfalten. Infolgedessen ist der Abschluss einer Betriebsvereinbarung ratsam (v. Hoyningen-Huene/Linck, § 1 KSchG Rn 957). Die Regelung des § 1 Abs. 4 KSchG gilt hingegen nicht für Punktsysteme, die vom Arbeitgeber einseitig aufgestellt wurden (v. Hoyningen-Huene/Linck, § 1 KSchG Rn 957; Küttner/Eisemann, Kündigung, betriebsbedingte, Rn 44).
Rz. 796
Grob fehlerhaft i.S.v. § 1 Abs. 4 KSchG ist eine Gewichtung der Sozialdaten dann, wenn sie jede Ausgewogenheit vermissen lässt, d.h., wenn einzelne Sozialdaten überhaupt nicht, eindeutig unzureichend oder mit eindeutig überhöhter Bedeutung berücksichtigt werden (BAG v. 2.12.1999 – 2 AZR 757/98, NZA 2000, 531; BAG v. 5.12.2002, NZA 2003, 849, 852; BAG v. 5.6.2008, NZA 1120 f.). Auch eine Auswahlrichtlinie nach § 95 BetrVG, die einen der sozialen Gesichtspunkte nach § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG, der bei allen Arbeitnehmern vorliegen kann (also Alter, Betriebszugehörigkeit), nicht oder so gering bewertet, dass er in fast allen denkbaren Fällen nicht mehr den Ausschlag geben kann, erfüllt ebenfalls nicht die gesetzlichen Vorgaben des § 1 Abs. 4 KSchG. Sie ist deshalb nicht geeignet, den Arbeitgeber durch die Anwendung des eingeschränkten Prüfungsmaßstabes der groben Fehlerhaftigkeit zu privilegieren (BAG v. 18.10.2006 – 2 AZR 473/05, NZA 2007, 504).
Rz. 797
Der Anwendbarkeit eines Punktesystems steht i.Ü. nach der seit dem 1.1.2004 geltenden Fassung von § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG nicht entgegen, dass es keine abschließende Einzelfallbetrachtung vorsieht. Der Arbeitgeber braucht neben den im Gesetz vorgesehenen sozialen Gesichtspunkten keine weiteren Gesichtspunkte zu berücksichtigen (BAG v. 9.11.2006 – 2 AZR 812/05, NZA 2007, 549).
Rz. 798
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang ferner, dass das BAG die sog. Domino-Theorie eingeschränkt hat (vgl. BAG v. 9.11.2006 – 2 AZR 812/05, NZA 2007, 549). Nach der früheren Rspr. konnten sich dann, wenn auch nur ein vergleichbarer sozial stärkerer Arbeitnehmer von der betriebsbedingten Kündigung ausgenommen worden war, ohne dass die Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG vorlagen, beliebig viele sozial schwächere zur gleichen Zeit gekündigte Arbeitnehmer auf den Auswahlfehler berufen (BAG v. 18.10.1984, NZA 1985, 423).
Rz. 799
Diese Rspr. ist kritisiert worden, da der sog. "Domino-Effekt" (vgl. Bitter/Kiel, RdA 1994, 333, 358) bei unabdingbaren Massenentlassungen zu dem Ergebnis führte, dass zahlreiche Kündigungen sozial ungerechtfertigt sein konnten, wenn der Arbeitgeber die soziale Auswahl in Bezug auf nur einen einzigen Arbeitnehmer fehlerhaft durchgeführt hatte (zur Kritik vgl. u.a. Linck, Die Kündigung von Arbeitsverträgen, 1993, S. 137; LAG Hamm v. 31.8.1994, LAGE KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 13; APS/Kiel, § 1 KSchG Nr. 776).
Rz. 800
Das BAG hat in seiner Entscheidung v. 9.11.2006 – 2 AZR 812/05 (NZA 2007, 549, 550) nunmehr ausgeführt, dass jedenfalls in Fällen, in denen der Arbeitgeber die Sozialauswahl lediglich noch durch den korrekten Vollzug eines zulässigen Punkteschemas vornehme, ihm der Einwand gestattet sein müsse, ein Auswahlfehler habe sich auf die Kündigungsentscheidung nicht ausgewirkt. Ein Arbeitnehmer könne sich zwar auf jeden Auswahlfehler berufen, dies sei ihm also nicht etwa von vornherein aus Gründen der Treuwidrigkeit versagt. Allerdings sei der Arbeitgeber seinerseits berechtigt, aufzuzeigen, dass und aus welchen Gründen ggü. dem klagenden Arbeitnehmer soziale Gesichtspunkte deshalb ausreichend berücksichtigt wurden, weil ihm selbst dann, wenn der gerügte Auswahlfehler nicht aufgetreten sei, gekündigt worden wäre (BAG v. 9.11.2006 – 2 AZR 812/05, NZA 2007, 549, 551).
Rz. 801
Hinweis
Der Arbeitgeber kann mithin das Risiko, bei Massenkündigungen Auswahlfehler zu begehen, mindern, wenn ihm eine Auswahlrichtlinie nach § 1 Abs. 4 KSchG zur Verfügung steht, er die Gruppe vergleichbarer Arbeitnehmer zutreffend ermittelt und die Sozialdaten richtig erhebt und beanstandungsfrei seiner Auswahlentscheidung zugrunde legt (APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 783).
Legt der Arbeitgeber seiner Sozialauswahl hingegen kein Punktesystem zugrunde, ist es einem gekündigten Arbeitnehmer nur dann verwehrt, sich auf einen Auswahlfehler zu berufen, wenn zweifelsfrei feststeht, dass sich der Fehler unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu seinem...