A. Rechtslage nach der Reform vom 1.3.1998
Rz. 1
Die am 1.3.1998 in Kraft getretene Regelung der §§ 73 und 74 OWiG hat eine wesentliche Verschlechterung der Stellung des Betroffenen gebracht. Galt vorher, dass ein Betroffener grundsätzlich zur Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht verpflichtet war und das Gericht sein persönliches Erscheinen nur anordnen durfte, wenn der Sachverhalt mit anderen Mitteln – z.B. mit einer kommissarischen Vernehmung – nicht aufgeklärt werden konnte, ist dieses Verhältnis nun umgekehrt:
Rz. 2
Jetzt ist der Betroffene grundsätzlich zum Erscheinen in der Hauptverhandlung verpflichtet. Zwar kann der Richter auch künftig unter bestimmten Voraussetzungen den Betroffenen auf seinen Antrag hin von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbinden. Vielfach ist jedoch festzustellen, dass Richter jetzt noch öfter als früher mit vorgeschobenen, meist formelhaften Begründungen auf dem persönlichen Erscheinen des Betroffenen bestehen, obwohl – oder gerade weil – sie doch wissen müssten, dass ein Betroffener seinen Einspruch eher zurücknimmt oder verwerfen lässt, als den mit der Wahrnehmung des Termins verbundenen unverhältnismäßig hohen Zeit- und Kostenaufwand auf sich zu nehmen.
Rz. 3
Dies ist umso bedenklicher, als jetzt der Richter nicht einmal mehr die Möglichkeit hat, die schriftlich vorgetragenen Einwände des Betroffenen zu berücksichtigen und in seiner Abwesenheit zu verhandeln, sondern den Einspruch des nicht entbundenen Betroffenen verwerfen muss (§ 74 Abs. 2 OWiG) und zwar in vollem Umfang, so dass z.B. ein Absehen vom Fahrverbot insoweit unzulässig ist (OLG Hamm zfs 2012, 51).
B. Anwesenheitspflicht
Rz. 4
Wie im Strafverfahren ist der Betroffene jetzt auch im Bußgeldverfahren zum Erscheinen in der Hauptverhandlung verpflichtet (§ 73 Abs. 1 OWiG); er kann sich – bevor er nicht vom persönlichen Erscheinen entbunden ist – auch nicht mehr durch einen Verteidiger vertreten lassen (§ 73 Abs. 3 OWiG).
Rz. 5
Für den Fall, dass der Betroffene unentschuldigt der Hauptverhandlung fernbleibt, schreibt § 74 Abs. 2 OWiG zwingend die Verwerfung des Einspruchs vor.
Achtung: Verstoß gegen MRK?
Der EuGH (EGMR 30804/07, Fall Neziraj) sieht die vergleichbare Vorschrift des § 329 Abs. 1 StPO wegen eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c MRK zumindest in den Fällen als ungültig an, in denen ein erklärungsbereiter Verteidiger zum Hauptverhandlungstermin erschienen ist (Hanseatisches OLG, StraFo 2018, 69).
Ob die Kritik mehrerer Oberlandesgerichte an dieser Entscheidung berechtigt ist, kann dahinstehen, da deren Hauptargument, im deutschen Strafverfahren diene die Anwesenheit des Angeklagten auch der Wahrheitsfindung, für das Bußgeldverfahren deshalb nicht zutrifft, weil dort die Anwesenheitspflicht des Betroffenen nur zulässig ist, wenn es um dessen Identifizierung geht, was die Oberlandesgerichte Brandenburg (zfs 2014, 590) und OLG Dresden (zfs 2014, 591) verkennen.
C. Entbindungsantrag
I. Antrag
Rz. 6
Eine Hauptverhandlung in seiner Abwesenheit kann der Betroffene nur erreichen, wenn er vom Gericht von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden wird. Das setzt einen Antrag des Betroffenen, der keiner besonderen Form bedarf (OLG Zweibrücken zfs 2018, 50) und vom Verteidiger auch noch zu Beginn der Hauptverhandlung mündlich gestellt werden kann (OLG Bamberg zfs 2015, 50; KG NZV 2017, 290) voraus, da der Richter diesen selbst dann nicht von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbinden kann, wenn auch er das Erscheinen des Betroffenen als überflüssig und unverhältnismäßig ansieht.
Rz. 7
Achtung: Keine Entbindung von Amts wegen
Das bedeutet gleichzeitig auch, dass der Richter einen ausreichend entschuldigten Betroffenen nicht ohne einen entsprechenden Antrag vom persönlichen Erscheinen entbinden und die Hauptverhandlung in dessen Abwesenheit durchführen kann (OLG Brandenburg NZV 2003, 587; BayObLG NZV 2004, 155; Thüringer OLG zfs 2006, 348; KG DAR 2011, 314). Das gilt auch für eine in Anwesenheit des Verteidigers lediglich fortgesetzte Hauptverhandlung (OLG Bamberg DAR 2006, 218).
Ebenso wenig kann er einen Verlegungsantrag des Betroffenen in einen Antrag auf Entbindung vom persönlichen Erscheinen umdeuten (OLG Hamm VRS 108, 274). Der Betroffene hat nämlich ein Recht auf Anwesenheit. Daran hat auch die seit 1.3.1998 bestehende Anwesenheitspflicht des Betroffenen nichts geändert.
Rz. 8
Diese Grundsätze gelten auch, wenn der Betroffene durch einen Verteidiger in der Hauptverhandlung vertreten ist (BayObLG DAR 2000, 174). Allerdings kann ein mit einer Vertretungsvollmacht ausgestatteter Verteidiger – wie dies auch der Betroffene selbst könnte – auf das Anwesenheitsrecht des Betroffenen wirksam verzichten (vgl. § 2 Rdn 15).
Rz. 9
Achtung: Entbindungsantrag des Verteidigers nur mit Erklärungsvollmacht möglich
Da in einem solchen Antrag gleichzeitig ein Verzicht auf das Anwesenheitsrecht des Betroffenen liegt, kann der Antrag nur von einem Verteidiger gestellt werden, dessen schriftliche Vertretungsvollmacht dem Gericht vorliegt (OLG Bamberg NStZ 2007, 180; OLG Zweibrücke...